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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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verlegenes Amüsement hinter erzwungenen Tränen zu verbergen. Ich rang ihr das Geständnis ab, dass ihr Herz vergeben sei. Ich wusste sofort, dass Art mich ausgestochen hatte. Zwar nannte sie ihn nicht beim Namen, doch darüber bestand kein Zweifel. Später, bei Quincey Morris - es scheint unglaublich, doch auch er gehörte
zu den Opfern unserer arglosen Lucy -, musste ich den ganzen Abend lang Arts Geplapper über ihrer beider zukünftiges Glück ertragen. Der Texaner war ein freigebiger, hochanständiger Kerl. Er beglückwünschte Art und schlug ihm auf die Schulter. Töricht grinsend stürzte ich Glas um Glas von Quinceys Whisky hinunter und blieb dennoch nüchtern, während die lieben Freunde sich scherzend dem Zustand der Trunkenheit näherten. Lucy stahl sich unterdessen fort nach Whitby, um Mina eine angemessene Zeit lang ihre Schadenfreude spüren zu lassen. Sie hatte sich den späteren Lord Godalming geangelt, während ihre Freundin, die Schullehrerin, nichts Besseres hatte an Land ziehen können als einen kleinen Sachwalter aus Exeter.
    Ich warf mich in die Arbeit, die klassische Heilmethode bei gebrochenem Herzen. Ich hoffte, mir mit Hilfe des armen Renfield einen Namen machen zu können. Meine Entdeckung der pathologischen Zoophagie sollte mich als einen aufstrebenden Wissenschaftler ausweisen. Leider ziehen wohlgesittete Damen bei Erwägung eines Verlöbnisses unerklärlicherweise immer noch einen ererbten Titel und unverdienten Reichtum der Isolierung bislang ungekannter Spielarten geistiger Verwirrung vor. In jenem Sommer folgte ich der verqueren Logik von Renfields Manie, die ihn winzige Lebewesen sammeln ließ. Zunächst verfuhr er dabei nach dem wohlbekannten Kinderlied: verfütterte Fliegen an Spinnen, Spinnen an Vögel, Vögel an eine Katze. Er hegte die Absicht, von dieser akkumulierten Lebensenergie zu zehren, indem er die Katze verspeiste. Als sich dies als untunlich erwies, aß er alles Lebendige, was ihm in die Fänge geriet. Bei dem Versuch, Vogelfedern auszuspeien, wäre er beinahe erstickt. Meine Monografie nahm allmählich Gestalt an, als ich eine zweite, mit der Zoophagie vermischte Obsession bemerkte, nämlich eine fixe Idee hinsichtlich des verfallenen Hauses auf dem Grundstück, das unmittelbar an das der Anstalt grenzte. Wie heute wohl ein jeder der
Vergnügungsreisenden weiß, die um eine Groschenführung anstehen, war Carfax das erste englische Domizil des Grafen. Es gelang Renfield mehrmals, zu entfliehen und zur Kapelle zu eilen, wo er etwas von der Ankunft seines Meisters, von Seelenrettung und der Verteilung guter Gaben faselte. Mit einiger Enttäuschung nahm ich an, dass er einem gänzlich ordinären religiösen Wahn verfiel, indem er das unbewohnte Haus von neuem mit seinem heiligen Zweck bekleidete. Zum ersten Mal in diesem Fall saß ich einem fatalen Irrtum auf. Der Graf hatte den Wahnsinnigen in seine Gewalt gebracht und gebrauchte ihn als Werkzeug. Wäre Renfield nicht gewesen, hätte er nicht seine vermaledeiten Zähne in meine Hand geschlagen, wäre womöglich alles anders gekommen. Wie heißt es doch bei Franklin noch so schön: »In Ermangelung eines Nagels …«
    In Whitby wurde Lucy krank. Wir wussten es damals zwar noch nicht, doch Art war seinerseits ausgestochen worden. In dieser Welt der Adelstitel ist ein walachischer Fürst von höherem Wert als ein englischer Lord. Der Graf, welcher soeben von der Demeter an Land gegangen war, fasste Lucy ins Visier und machte sie allmählich zum Vampir. Zweifellos waren dem flatterhaften Mädchen seine Avancen hochwillkommen. Nachdem man sie nach London verbracht und Art mich herbeigerufen hatte, sie zu untersuchen, stellte ich fest, dass ihr das Hymen zerrissen worden war. Ich hielt Art für ein Schwein reinsten Wassers, sich sein eheliches Recht auf diese Weise im Voraus erkauft zu haben. Da ich mit dem späteren Lord Godalming die ganze Welt bereist hatte, hegte ich keinerlei Illusionen, was seine Achtung für die Unverletzlichkeit der Jungfernschaft betraf. Heute bin ich geneigt, Mitleid zu empfinden für den Art aus jenen Tagen, krank vor Sorge um sein unwürdiges Mädchen, ebenso wie ich zum Narren gehalten vom Licht des Westens, das sich bei Nacht der Bestie des Ostens hingab.

    Es ist durchaus möglich, dass Lucy wahrhaftig glaubte, sie sei in Art verliebt. In diesem Fall war ihre Liebe jedoch, auch vor der Ankunft des Grafen schon, wohl äußerst oberflächlich. Unter den von Van Helsing zusammengetragenen Briefen

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