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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Schreihälsen belagert. Hellseherische Medien wie Lees und Carnacki waren hinzugezogen worden. Eine Reihe beratender Detektive - Martin Hewitt, Max Carrados, August van Dusen - hatte sich in Whitechapel auf Spurensuche begeben. Selbst der ehrwürdige Hawkshaw war aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Da der anerkannte Meister ihres Faches jedoch in Devil’s Dyke weilte, schwand der Enthusiasmus der Detektive schnell dahin, und so war noch immer keine Lösung gefunden. Man hatte einen Verrückten namens Cotford aufgegriffen, der wie ein Bänkelsänger mit schwarzbraun bemaltem Gesicht umherkreuchte und behauptete, er sei ein »verkleideter« Detektiv. Er war zur Untersuchung nach Colney Hatch verbracht worden. Die Geisteskrankheit, so meinte Jack Seward, könne durchaus ansteckend sein.
    In ihrer Tasche fand Geneviève einen Shilling und steckte ihn in eine Falte von Lilys Decke. Die Neugeborene murmelte im Halbschlaf vor sich hin, erwachte aber nicht. Als ein Hansom vorüberklapperte, erhaschte Geneviève einen flüchtigen Blick auf das Profil eines dämmernden Fahrgastes, dessen Hut im Rhythmus des Wagens hin und her schwankte. Wahrscheinlich ein Spätheimkehrer von einer Nacht im Freudentempel. Da erkannte sie den Passagier. Es war Beauregard, der Mann, der ihr bei der Zeugenbefragung in Sachen Lulu Schön aufgefallen war, der Mann aus dem Diogenes-Club. Glaubte man Lestrade, so war seine Gegenwart ein sicheres Anzeichen dafür, dass an höchster Stelle Interesse an Silver Knife bekundet wurde. Die - neu erblühte - Königin hatte öffentlich ihrer Besorgnis über »diese grässlichen Morde« Ausdruck verliehen, nicht jedoch Graf Dracula, der, wie Geneviève vermutete, dem Leben einiger Straßenmädchen - einerlei ob Warmblüter oder Vampire - ebenso große Bedeutung beimaß wie dem eines Mistkäfers.

    Der Wagen rollte in den Nebel davon. Wieder hatte sie das Gefühl, als stünde jemand dort draußen hinter einer fahlgelben Wand verborgen, der sie beobachtete und nur auf eine Gelegenheit wartete, zuschlagen zu können. Das Gefühl ging vorüber.
    Allmählich wurde ihr bewusst, dass sie gegen die Taten jenes unbekannten Irren nicht das Geringste auszurichten vermochte, und endlich begriff sie auch, welche Bedeutung dieser Fall bekommen hatte. Alle Welt verkündete mit felsenfester Überzeugung, hier gehe es um mehr als nur drei Dirnenmorde. Es gehe um die »beiden Nationen« Disraelis; es gehe um die bedauerliche Verbreitung des Vampirismus bei den unteren Klassen; es gehe um den Niedergang der öffentlichen Ordnung; es gehe um das empfindliche Gleichgewicht innerhalb des verwandelten Königreiches. Die Morde waren nichts als Funken, Großbritannien aber war ein Pulverfass.
    Sie brachte viel Zeit unter Huren zu - sie hatte selbst lange Zeit als Ausgestoßene gelebt, so dass sie sich ihnen in gewisser Weise verbunden fühlte - und teilte ihre Befürchtungen. Heute Nacht, kurz vor Tagesanbruch, hatte sie im Haus der Mrs. Warren unweit von Raven Row ein Mädchen gefunden und von ihm getrunken, weil es die Not erforderte, nicht zum Vergnügen. Die warme Annie hatte sie sanft umschlungen und ihr das zarte Fleisch an ihrem Hals wie eine Säugamme angeboten. Nachher hatte Geneviève ihr eine halbe Krone gegeben. Es war zu viel, doch sie konnte nicht anders. Der einzige Schmuck im Zimmer der warmen Annie war ein billiger Druck von Vlad Tepes auf seinem Ritt in die Schlacht. Die einzigen Möbelstücke waren ein Waschtisch und ein großes Bett, dessen Laken man so oft gewaschen hatte, dass sie dünn waren wie Papier; die Matratze war mit formlosen braunen Flecken übersät. In Bordellen wie diesem gab es schon seit langem keine reich verzierten Spiegel mehr.
    Nach all den Jahren hätte Geneviève ihr räuberisches Leben eigentlich
gewohnt sein müssen, doch der Prinzgemahl hatte die ganze Welt auf den Kopf gestellt, und wieder war sie voller Scham: nicht etwa der Dinge wegen, die sie tun musste, um sich am Leben zu erhalten, sondern jener Dinge wegen, welche die Vampire von Vlad Tepes’ Geblüt anrichteten. Annie war nicht zum ersten Mal gebissen worden. Früher oder später würde sie sich verwandeln. Weil sie aber ohne feste Herkunft war, musste sie sich auf eigene Faust durchs Leben schlagen, so dass sie entweder wie Cathy Eddowes dem Suff erliegen, wie Polly Nichols einem wahnsinnigen Mörder zum Opfer fallen oder wie Carroty Nell als Tier enden würde. Ihr schwirrte der Kopf von dem Gin, den das warmblütige Mädchen

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