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Die Vampire

Titel: Die Vampire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Newman
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Thronfolger zu sein.

34
Das Gericht der Tränen
    G enau das brauchte Geneviève jetzt. Die Konfrontation mit einem Monstrum und nicht mit sich selbst.
    Bond erzählte ihr, dass Gregor Brastow tot war, dass der scharlachrote Henker ihn gehäutet und ausgeweidet hatte. Brastow hatte von der Mutter der Tränen gewusst, also sicher auch dass es sich bei dem Henker um ihre Marionette handelte. Das ließ für Geneviève nur den Schluss zu, dass der Kater den britischen Spion und sie gegen den Feind, den er am meisten fürchtete, hatte in Stellung bringen wollen. Nur waren sie von anderen Angelegenheiten - Charles und Dracula - abgelenkt gewesen. Ein heimlicher Krieg hatte stattgefunden und sich ihrer Kenntnis entzogen. Am Ende musste Geneviève mit hineingezogen werden. Es war unausweichlich.
    Noch ein Ältester tot, nach Hunderten von Jahren. Die meisten waren abscheulich, aber sie war es gewohnt, die Welt mit ihnen zu teilen. Vor Dracula hatten die Ältesten Jahrhunderte auf Reisen verbracht und waren einander, wenn sich ihre Wege einmal kreuzten, sehr umsichtig und höflich begegnet. Gelegentlich hatten sie sich sogar als Gemeinde zusammengefunden.
    Seit Carmilla Karnstein hatte Geneviève nicht einen Vampirältesten mehr zu ihren Freunden gezählt. Sie waren zum Großteil blutrünstige Dreckschweine. Selbst Carmilla war übergeschnappt.
    Vor dem Gebäude blieben sie bei Bonds Austin Martin stehen. Der Wagen wies einige neue Einschusslöcher auf.
    »Es ist von hier aus zu sehen«, sagte Bond. »Wir können zu Fuß gehen.«
    Wenn man es recht bedachte, kam für das letzte Gefecht nur
ein Ort in Rom infrage. Charles war aufgefallen, dass der Henker sich für seine Bluttaten immer bekannte öffentliche Plätze ausgewählt hatte.
    Bond führte sie die Straße hinunter.
    Das Kolosseum erhob sich vor der römischen Nacht, zerschnitten wie eine Hochzeitstorte, in die jemand mit der Sense gehackt hatte.
    Das Amphitheatrum Flavium - Charles hatte in seiner Penibilität den eigentlichen Namen vorgezogen - war 72 nach Christus von Vespasian an der Stelle eines zum Gedenken Neros künstlich angelegten Sees errichtet worden, im Rahmen eines Stadterneuerungsvorhabens, das den mörderischen Kaiser aus dem Gedächtnis tilgen sollte. Vespasian hatte es nicht mehr miterlebt, dass der Sand der Arena vom Blut der ersten Gladiatorenkämpfe rot gefärbt wurde. Diese fanden erst ein Ende, als Honorius 405 den Kampf um Leben und Tod verbot. Wilde Tiere, schon immer ein beliebtes Nebenprogramm, waren hier noch weitere anderthalb Jahrhunderte aufeinandergehetzt worden. Geneviève wusste, dass verschiedene von Gewissensbissen geplagte Kaiser versucht hatten, nach griechischem Vorbild sportliche Wettkämpfe zu installieren, bei denen niemand zu Tode kam, aber davon hatte das Publikum nichts wissen wollen. Nur Blut allein vermochte das römische Volk zufriedenzustellen. Sie war nicht gerade die Richtige, in diesem Punkt eine allzu kritische Haltung an den Tag zu legen.
    Jahrhundertelang hatten die Römer aus dem Kolosseum Steine für neue Gebäude gestohlen. Blutbesudelte Quader waren im Palazzo Venezia verbaut worden, in der Cancelleria, im Petersdom und in zahlreichen bescheideneren Gebäuden. Das Plündern hatte erst Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Ende gefunden, als Papst Benedikt XIV. das Kolosseum unter Bezugnahme auf das fromme Märchen, dort hätten viele Märtyrertode stattgefunden,
zu einer heiligen Stätte erklärte. Es stimmte gar nicht, dass man dort Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen hatte. Das wäre nicht unterhaltsam genug gewesen. Stattdessen waren die Anhänger des Menschenfischers gepfählt und - als primitive Form der Straßenbeleuchtung - angezündet worden, oder man hatte sie schlicht als Störenfriede gekreuzigt. Die Arena war denjenigen vorbehalten geblieben, die sich auch tatsächlich einen spannenden Kampf bis zum Tod liefern konnten. Schon über tausend Jahre vor Dracula, Gilles de Rais oder Elisabeth Báthory war der Appetit des Publikums auf Blut enorm.
    Im neunzehnten Jahrhundert, als Geneviève sich kurz in Rom aufgehalten hatte, war das Kolosseum ein Urwald gewesen, hatten alle möglichen Pflanzen die Steine überwuchert. Dass sich das nicht zu unterdrückende Leben den toten Marmor zurückholte, war für sie damals ein Zeichen der Hoffnung gewesen; nun aber war aller Wildwuchs beseitigt und das ausgeblichene Skelett des Bauwerks wieder freigelegt. Die beiden Bogenreihen, die das ursprüngliche

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