Die Vampire
Geneviève war mit der Stille der Dämmerung allein. Nach einer Weile häuften sich die Schreckenstaten zu einem grauenvollen Einerlei. Lily hatte sie ausgeblutet. Sie fühlte nichts. Nicht einmal Trauer über den Tod von Liz Stride oder Cathy Eddowes.
Als die Sonne aufging, fiel sie in leichten Schlummer. Sie war es leid, für alles und jedes Sorge tragen zu müssen. Sie wusste, wie es kommen würde. Es war mit jedem Mord schlimmer geworden. Ein Trupp hysterischer, in Tränen aufgelöster Huren hatte in der Hall um Geld gebettelt, um der Todesfalle Whitechapel zu entfliehen. In Wahrheit war der Bezirk längst eine Todesfalle gewesen, ehe der Ripper seine Messer versilbert hatte.
In ihrem Halbtraum war Geneviève zurückgekehrt in ihre warmblütigen Jahre; das Herz brannte ihr vor Zorn und Schmerz, und ihre Augen quollen über vor bitteren, gerechten Tränen. Ein Jahr vor dem dunklen Kuss hatte sie sich über die Nachricht aus Rouen die Augen ausgeweint. Die Engländer hatten Jeanne d’Arc als Hexe verleumdet und verbrannt. Mit vierzehn Jahren verschwor sich Geneviève der Sache des Dauphin. Es war ein Krieg unter Kindern, den ihre Vormünder zu blutigen Exzessen trieben. Jeanne starb noch vor ihrem neunzehnten Geburtstag, Dauphin Karl war keine zwanzig; selbst Heinrich von England war ein Kind. Sie hätten ihren Streit mit Hilfe eines Kreisels beilegen sollen statt mit Armeen und Belagerungen. Nicht nur die Knabenkönige waren gefallen, sondern auch ihre Fürstenhäuser. Das heutige Frankreich, ein Land, welches ihr ebenso fremd war wie die Mongolei, hatte nicht einmal mehr einen Monarchen. Wenn in den deutschen Adern Königin Viktorias immer noch das englische Blut Heinrichs des Vierten strömte, war womöglich auch ein Gutteil der Welt davon befallen, bis hin zu Lily Mylett und Cathy Eddowes, John Jago und Arthur Morrison.
Aus der Aufnahme drang - neuerlicher - Lärm herauf. Geneviève rechnete fest damit, dass es im Verlauf des Tages weitere Verletzte geben würde. Infolge der Morde käme es zu Straßenschlachten, forderten die Bürgerwehren ihre Opfer, verlegte man sich am Ende gar auf die Lynchjustiz à l’américaine …
Vier uniformierte Polizisten standen im Flur; sie trugen etwas Schweres, das in Wachsleinwand geschlagen war, in ihrer Mitte. Lestrade knabberte an seinen Schnurrbartspitzen. Die Constables hatten sich einen Weg durch die aufgebrachte Menge schlagen müssen. »Wie wenner sich über uns lustich machen wollte«, sagte einer von ihnen, »alle hetzter sie geeng uns auf.«
Im Schlepptau der Polizei befand sich ein neugeborenes Mädchen mit einer Rauchglasbrille auf der Nase, das in seiner schmucklosen Kleidung nachgerade ausgehungert wirkte. Geneviève hielt sie für eine Reporterin.
»Sie müssen sofort ein Zimmer räumen, Mademoiselle Dieudonné.«
»Inspektor …«
»Reden Sie nicht lange, machen Sie. Eine der beiden lebt noch.«
Sie begann ihre Belegliste zu durchforsten, als ihr einfiel, welches Zimmer leerstand.
Ächzend unter ihrer grobschlächtigen Last, folgten sie ihr zu Lilys Zimmer, und Geneviève ließ sie ein. Sowie sie das kleine Bündel fortgenommen hatte, bugsierten die Beamten ihr Gepäck an seine Stelle und schlugen die Wachsleinwand zurück. Hagere Beine plumpsten über das Ende des Bettchens, und unter dem Rocksaum kamen löchrige Strümpfe zum Vorschein.
»Mademoiselle Dieudonné, darf ich Sie mit Liz Stride bekanntmachen?«
Die Neugeborene war groß und dünn, hatte hohle, mit rouge verschmierte Wangen und zerzaustes schwarzes Haar. Das Baumwollhemdchen
unter ihrer offenen Jacke war vom Kragen bis zur Hüfte blutgetränkt. Der Ripper hatte ihr die Kehle von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Die klaffende Wunde reichte bis hinunter auf die Wirbelsäule und wirkte wie das breite Grinsen eines Clowns. Sie röchelte, während ihre durchtrennten Röhren zusammenzuwachsen versuchten.
»Der gute Jackie hatte wohl zu wenig Zeit«, erklärte Lestrade. »Da hat er sich dann Cathy Eddowes vorgeknöpft. Dieses warmblütige Schwein.«
Liz Stride versuchte zu schreien, bekam jedoch keine Luft aus der Lunge hinauf in ihre Kehle. Ein leiser Hauch wisperte aus ihrer Wunde. Bis auf ihre spitzen Schneidezähne war ihr Mund ein gähnendes Loch. Ihre Glieder zuckten wie galvanisierte Froschschenkel. Zwei Constables mussten ihre ganze Kraft aufbieten, sie niederzudrücken.
»Halten Sie sie fest, Watkins«, sagte Lestrade. »Halten Sie ihren Kopf still.«
Einer der Constables
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