Die Vampire
frühen Todes sterben müssen, im Ausgleich für das lange Leben der Geneviève Dieudonné?
»Lily, mein Liebes«, suchte sie das Mädchen zu beschwören, »mein Kind, Lily, mein teurer Schatz, meine Lily, meine Lily …«
Die geblendeten Augen des Kindes sprangen auf. Vom Licht getroffen, verschrumpfte eine milchige Pupille zu einem winzigen Punkt. Trotz ihrer Schmerzen brachte sie beinahe ein Lächeln zuwege.
»Ma-ma«, sagte sie, ihr erstes und letztes Wort. »Mma …«
Rose Mylett, oder wer auch immer die Mutter des Kindes sein
mochte, war nicht auffindbar. Der Matrose oder Markthelfer, der seine vier Pence verschleudert hatte, um sie zu zeugen, wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass es sie gab. Und der Murgatroyd aus dem West End - dem Geneviève nachspüren und wehtun wollte - frönte unterdessen anderen Gelüsten. Nur Geneviève war hier.
Lily wand sich in Zuckungen. Blutige Schweißperlen bedeckten ihr Gesicht.
»Mma …«
»Ich bin es, deine Mutter, Kind«, sagte Geneviève. Sie hatte weder Kinder noch Nachkommen. Da sie bei ihrer Verwandlung jungfräulich gewesen war, hatte sie den dunklen Kuss niemals weitergegeben. Doch war sie diesem Kind eher noch eine Mutter als die warmblütige Rose, eher noch ein Fangvater als der Murgatroyd …
»Ich bin es, Mama, Lily. Mama hat dich lieb. Bei mir bist du wohlaufgehoben …«
Sie nahm Lily aus dem Bettchen und schloss sie in die Arme, drückte sie fest an sich. Die Knochen in der schmalen Brust des Mädchens regten sich. Geneviève presste den zerbrechlichen kleinen Kopf an ihren Busen.
»Da …«
Geneviève zog ihr Hemd auseinander und ritzte sich mit dem Daumennagel leicht die Brust. Sie fuhr zusammen, als ihr Blut hervorsickerte.
»Trink, trink, mein Kind …«
Genevièves Blut, von Chandagnacs reinem Geblüt, konnte Lily vielleicht heilen, wusch vielleicht das Erbübel von Draculas Grabesfäule heraus, machte sie vielleicht wieder gesund …
Vielleicht, vielleicht, vielleicht.
Sie presste Lilys Kopf an ihre Brust und führte den Mund des Mädchens zu der Wunde. Es schmerzte, als bohrte ihr jemand
eine eisige Silbernadel durch das Herz. Liebe und Schmerz waren eins. Ihr hellrotes Blut benetzte Lilys Lippen.
»Ich lieb dich, kleiner Vogel mein …«, sang Geneviève.
Ein würgender Laut drang aus Lilys Kehle.
»Leb wohl, kleiner Vogel mein, ich fliege wieder fort …«
Lilys Kopf glitt von Genevièves Brust. Das Gesicht des Mädchens war blutverschmiert.
»… denn bleib ich hier …«
Der Flügel des Kindes flatterte, ein konvulsivisches Zucken, das Geneviève aus dem Gleichgewicht warf.
»… wird zum Kerker mir …«
Das Gaslicht schimmerte wie ein blauer Mond durch die dünne Haut des Flügels und zeichnete die Silhouette eines Flechtwerks sich verlaufender Adern.
»… der goldne … Käfig … dort.«
Lily war tot. In einem Anfall von Verzweiflung warf Geneviève das Leichenbündel auf das Bett und heulte. Ihr Hemd war durchweicht von ihrem unnützen Blut. Das nasse Haar klebte ihr im Gesicht, geronnene Bluttränen in den Augen. Sie wollte, sie hätte an Gott geglaubt, und sei es, um ihn zu verfluchen.
Fröstelnd trat sie einen Schritt zurück. Sie rieb sich die Augen und strich ihr Haar in den Nacken. Auf einem Tischchen stand eine Wasserschüssel. Sie wusch sich das Gesicht, blickte auf die feine Maserung des Holzrahmens, in dem sich einst ein Spiegel befunden hatte. Als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass Leute ins Zimmer gekommen waren. Ihre Schreie hatten offenbar beträchtliche Aufregung verursacht.
Arthur Morrison stand mit Mrs. Amworth in der offenen Tür. Andere warteten auf dem Flur. Leute von draußen, von der Straße, Warmblüter und nosferatu. Morrison war wie vom Donner gerührt. Sie wusste, dass sie scheußlich aussah. Im Zorn veränderte sich ihre Miene.
»Wir dachten, Sie sollten es sofort erfahren, Geneviève«, sagte Morrison. »Es hat wieder einen Mord gegeben. Wieder eine Neugeborene.«
»In Dutfield’s Yard«, posaunte jemand die brühwarmen Nachrichten heraus, »gleich um de Ecke vonner Berner Street.«
»Lizzie Stride, dabei hatse sich man letzte Woche ers’ verwandelt. Nichmals ihrne Zähne warn schon richtich raus,’n aufgeschossenes Mädel, un’ so was von fidel.«
»’n Hals hatter se durchgeschnitten, hä?«
»Der langen Liz.«
»Stride. Gustafsdotter. Elizabeth.«
»Von ei’m Ohr zum andern. Ratsch!«
»Die hat vielleich’n Krach geschlaang. Gescheuert hatse’m eine.«
»Der
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