Die Vampirin - Lieber untot als todlangweilig
sofern sie noch lebte. Ich spürte, wie auch mir die Schultern sanken. Plötzlich war ich todmüde. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf dem Boden einzurollen und zu schlafen. Stattdessen griff ich in meinen Koffer, zog zwei Stangen rote Lakritze heraus und gab eine davon Mrs Bones.
»Das ist entmutigend, Liebes, ich weiß«, sagte sie, und ein aufrichtiges Lächeln trat in ihr Gesicht. Sie biss von der Lakritze ab und kaute daran. Aber es ist unsere ehrenvolle Aufgabe, die Schwachen zu beschützen. Es sieht nicht danach aus, ich weiß, doch so alt ich auch bin und so jung du auch bist: Wir sind sehr mächtig, Svetlana. Zusammen können wir es schaffen. Ihre grauen Augen waren weich geworden, und der Keksduft hatte sich
verstärkt. Ich atmete ihn tief ein und fühlte mich etwas besser. Sie erhob sich vom Stuhl und zuckte wegen der knackenden Gelenke zusammen. Ohne weiter darüber nachzudenken, legte ich meine Arme um sie und drückte sie sanft, und sie erwiderte die Umarmung.
Was machen wir jetzt?, fragte ich.
Reizendes Mädchen, erwiderte sie.
Ich küsste die runzlige Stirn der kleinen Lady. Ich möchte nicht, dass Sie sich noch mal ins Baumhaus schleichen, übermittelte ich ihr mit Nachdruck. Das ist schon das zweite Mal.
Das zweite Mal, dass du es mitbekommen hast, Liebes. Sie schmunzelte und biss noch ein Stück Lakritze ab. Und ich bin nicht so gebrechlich, wie du vielleicht denkst.
»Davon bin ich überzeugt«, sagte ich und klappte ihr wegen der nächtlichen Kälte den Kragen wieder hoch, sodass der rote Stein an ihrer Kehle nicht mehr zu sehen war.
Aber wir müssen unseren Angriff planen, flüsterte sie in meinem Kopf und beugte sich vor, um durch ein Fenster in die Nacht zu sehen. Wir müssen dem Vampir entgegentreten und die Kinder befreiten, bevor es zu spät ist.
Ob sie wirklich diesen Augenblick meinte? Jetzt?
Natürlich - wir haben keine Minute zu verschwenden. Sie wandte sich vom Fenster ab, und ihre Augen glühten vor Entschlossenheit.
Aber ich konnte das jetzt nicht tun. Wenn meine Elfern aufwachsen und ich -
Wir müssen handeln, Svetlana! Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, kam dahinter hervor und ergriff meine Schultern. Es gibt nichts zu bedenken, wir müssen -
Doch beim letzten Wort machte sie einen unbesonnenen Schritt rückwärts und fiel durch das Loch im Boden. Sie stieß einen überraschten Schrei aus und verschwand im Bruchteil einer Sekunde. Ich spürte ihre Panik in meinem Kopf, während sie stürzte. Im nächsten Moment hörte ich schon, wie sie auf dem Boden aufschlug. Unten im Haus begann Razor wie wild zu bellen. Ich flitzte die Leiter runter und kniete mich neben die kleine Frau. Sie weinte. Ich weiß nicht warum, aber mir war sofort klar, dass sie sich ein Bein gebrochen hatte.
Das ist ja schrecklich peinlich, sagte sie, und dicke Tränen liefen ihr über die Wangen.
Alles in Ordnung, Mrs Bones?
Sie schüttelte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf. Ich hab’s komplett vermasselt! Das tut mir leid, Liebes, so furchtbar leid! Sie drehte sich etwas zur Seite und zuckte dabei in meinen Armen zusammen. Ich spürte ihren Schreck in mir, als ihr ein jäher Schmerz durchs gebrochene Bein fuhr.
Ich bettete ihren Kopf auf meinen Schoß und schob
graue Locken aus ihrem Gesicht. Dann beugte ich mich vor, küsste ihre papiernen Wangen und atmete den intensiven Duft von Keksen ein. Oben im Schlafzimmer meiner Eltern ging das Licht an, und der Kopf meines Vaters erschien als dunkler Umriss im Fenster und verschwand genauso schnell wieder. Razor bellte und bellte, und gleich darauf ging das Licht auf der vorderen Veranda an.
Das ist furchtbar, dachte Mrs Bones. Ich hab so ein Chaos angerichtet. Sie rieb die knochigen Finger an meinem Arm, und ihre nassen Augen glitzerten im schwachen Mondlicht. Es tut mir so leid, Liebes.
»Schhh«, flüsterte ich. »Sie werden sicher wieder gesund.«
Ich hörte meinen Vater von hinten angerannt kommen.
Natürlich werde ich das, Süße. Aber was wird aus dir?
Sechzehntes Kapitel
Nachdem die Sanitäter Mrs Bones in den Rettungswagen geladen hatten, brachte Mom mich ins Haus zurück. Ich wollte mit Dad zum Krankenhaus, doch das erlaubte er mir nicht. Mit seinem Auto folgte er den Sanitätern, die ohne Martinshorn, aber mit Blaulicht durch die nachlassende Dunkelheit der Cherry Street fuhren. Nachbarn standen in Hausmantel und Pyjama auf ihrer Veranda und sahen zu.
»Ich will doch nur wissen, dass es ihr gut geht«, sagte ich zu
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