Die Vampirjaegerin
Dabei hatte sie sich zwar nicht verletzt, doch sie erwartete jeden Moment, dass sich die Zähne des Jaguars in ihren Hals schlugen.
Nach ein paar Sekunden öffnete sie vorsichtig die Augen und sah eine sehr große Katze über sich, die mit den Vorderpfoten auf ihren Schultern stand.
Vielleicht hatte sie geblinzelt; sie war sich nicht sicher. Doch plötzlich war es Jaguar, der sich aufrichtete und ihr die Hand reichte, um sie hochzuziehen.
Einige endlose Sekunden lang starrte sie sprachlos seine Hand an.
Jaguar schien sich in der sonnigen Umgebung des Hofes genauso wohlzufühlen wie im exotischen Interieur von Midnight. Das Sonnenlicht erzeugte warme kasta-nienbraune Reflexe in seinem dunklen Haar und seine Haut schimmerte wie Bronze.
Turquoise nahm sich schnell zusammen und ließ seine Hand los. »Jaguar ...«
Doch er sagte lediglich: »Audra, ich glaube nicht, dass ich dich hierher eingeladen habe.« Sein Tonfall war leicht, fast spielerisch, und sie misstraute ihm sofort.
»Sie ...«
Bevor sie den Satz aussprechen konnte, ließ sich Jaguar neben der anderen Katze, die sich freundschaftlich an seine Schulter schmiegte, auf die Knie fallen.
»Erlaube mir, dir Shayla vorzustellen, das schönste Lebewesen in diesem Ge-bäude.« Er hielt inne, um mit dem Finger die Rosetten in Shaylas Fell nachzuzeichnen. »Und ich glaube nicht, dass sie je etwas dagegen hätte, ›Milady‹
genannt zu werden.«
Turquoise drehte sich immer noch der Kopf, und die einzige Antwort, die ihr einfiel, war: »Mein Vater nannte unsere Tigerkatze immer so, wenn er etwas von ihr wollte.«
»Shayla misstraut den meisten Menschen für gewöhnlich«, erklärte Jaguar. »Und da jeder meiner Feinde auch ihr Feind ist, hat sie dazu auch allen Grund. Du hast Glück, dass sie dich so schnell akzeptiert hat.«
»Und wenn sie das nicht getan hätte?«
Jaguars schwarze Augen waren unergründlich, als er von Shayla zu Turquoise aufsah. »Dann würdest du jetzt nicht hier stehen.«
Er sah weg, und als er wieder sprach, klang er wieder ganz entspannt. »Shayla verfügt über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Da sie dich für würdig hält, erlaube ich dir, dich hier aufzuhalten.«
»Vielen Dank, Milady«, sagte Turquoise betont höflich in Shaylas Richtung, doch die Katze ließ sich bei der sorgfältigen Reinigung ihrer rechten Vordertatze nicht stören.
Als die Raubkatze spürte, dass sich die Lage entspannt hatte, nutzte sie den Moment zu einem Angriff, bei dem sie wie ein junges Kätzchen mit Jaguar spielte.
Turquoise musste unwillkürlich lachen. Sie sah einen Vampir herumtollen !
Nachdem Jaguar sie fast in die Wasserlilien bugsiert hatte, hatte Shayla als Erste genug und stolzierte mit aufgestellten Ohren in Richtung der Bäume davon, als wollte sie sagen, dass sie das genau so beabsichtigt habe.
Jaguar blieb am Boden sitzen. Er stützte sich auf die Ellbogen, um Turquoise anzusehen. »Man sagte mir, ich verbrächte zu viel Zeit in Jaguarform und dass dies mein Verhalten beeinflussen würde. Glaubst du das auch?«
»Auf jeden Fall.« Er hatte ihr erlaubt, frei zu sprechen, und sie wollte wissen, wie weit diese Freiheit reichte. »Wie lange kennen Sie Shayla schon?«
Jaguar seufzte. »Ich kenne ihre Familie, seit ihr Urgroßvater ein kleines Kätzchen war. Shayla wurde vor einigen Jahren von einem Jäger verletzt. Sie verlor ein Auge und beinahe auch das andere. Sie hinkt immer noch ein wenig, weil der Knochen zu spät gerichtet wurde. Im Dschungel hätte sie nicht überlebt, daher habe ich sie hierhergebracht.«
Jaguar sah nach Shayla und Turquoise folgte seinem Blick. Shaylas einzige Reaktion bestand aus einem herzlichen Gähnen.
»Bei vielen alten Kulturen in Mittel- und Südamerika galt der Jaguar als Gott oder als Bote der Götter«, erzählte Jaguar abwesend.
Die Bemerkung veranlasste Turquoise zu fragen: »Ist das Ihre Heimat?«
Sein Gesichtsausdruck wurde etwas verschlossener, als er antwortete: »Die meiner Mutter.« Wieder ausgeglichen fügte er hinzu: »Mein Vater war Spanier.«
Er wandte sich abrupt ab, und Turquoise schalt sich, diese Frage gestellt zu haben. Einen anderen Vampir hätte sie so etwas nie gefragt, da Vampire in der Regel recht heftig darauf reagierten, nach ihren Ursprüngen gefragt zu werden. Sie hatte einen Moment lang fast vergessen, was Jaguar war.
Nun wäre eine gute Gelegenheit, sich zurückzuziehen und ihn alleine grübeln zu lassen. Die Launen von Vampiren waren wechselhaft, und schlechte
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