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Die Verbannung

Titel: Die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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Rivalen zu betrachten ...«
    »Jetzt, wo er tot ist, verbringst du deine gesamte Zeit damit, um ihn zu trauern. Dir lag schon immer viel mehr an ihm als an mir!«
    Cody schnappte entsetzt nach Luft. »Das ist nicht wahr! Ich habe mich auf seine Kurse immer gefreut, weil das die einzige Zeit war, die ich ganz allein für mich hatte. Und jetzt...«, die ersten Tränen rollten ihr über die Wangen, »... jetzt darf ich noch nicht einmal um meinen besten Freund trauern? Wir waren befreundet, solange ich denken kann, aber ich kann dir gegenüber ja noch nicht einmal seinen Namen erwähnen, ohne dass du ausflippst. Weißt du, wie weh es mir tut, mit dir nicht über das sprechen zu können, was mich bewegt?«
    Raymonds Augen loderten vor Zorn. So erregt hatte sie ihn noch nie gesehen. »Entschuldige bitte, aber soweit ich es überblicken kann, sprichst du nie über etwas anderes als über ihn.«
    Jetzt liefen ihr die Tränen in Strömen über die Wangen. Ihre Lippen waren geschwollen, ihre Nasenspitze begann sich zu röten. »Genau das tue ich eben nicht! Reden kann man mit dir ja nicht! Früher habe ich manchmal über ihn gesprochen, aber jedes Mal, wenn sein Name fiel, hast du irgendeine bösartige Bemerkung gemacht, und da ließ ich es bald bleiben.« Sie ging zur Anrichte, riss ein Blatt von der Küchenrolle ab und putzte sich die Nase. Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Mann um. Ihre Stimme klang tonlos. »Hör zu, Raymond, ich fahre. Nichts und niemand wird mich daran hindern, auch du nicht.« Sie wandte sich ab und ging ins Schlafzimmer. Was sie betraf, so war das letzte Wort gesprochen. Sie würde nach Schottland fahren, und wenn er bei ihrer Rückkehr noch da war, gut. Dann würden sie miteinander reden. Wenn nicht - auch gut.
    Glen Ciorram, Schottland, entsprach ziemlich genau Codys Vorstellung von einem Provinznest. Es war ein majestätisches, mitten im westlichen Hochland gelegenes Tal, zum Süden von hohen, schroffen Bergen, zum Norden von niedrigeren, bewaldeten Hügeln begrenzt. Der einzige Weg ins Tal hinein war eine schmale, gewundene Straße. Direkt am Eingang des Tales, etwas abseits der Straße, lag die Königin-Anne-Garnison.
    Sie fuhr mit ihrem kleinen blauen Leihwagen an einem braunen Schild vorbei, auf dem in weißen Buchstaben >Fàil-te do Gleann Ciorram< stand, darunter etwas kleiner: Willkommen in Glen Ciorram. < Die Fahrt von Glasgow hierher hatte sie einiges an Nerven gekostet. Erst mit sechzig Meilen pro Stunde über die Schnellstraße, dann schmale, gewundene Landstraßen entlang, die so eng waren, dass kaum zwei Autos aneinander vorbeikamen, dennoch donnerten Lastwagen und Sattelschlepper mit unverminderter Geschwindigkeit auf sie zu, wie es ihr vorkam. Da sie fest davon überzeugt war, dass der entgegenkommende Verkehr es nur darauf abgesehen hatte, sie von der Straße zu drängen, war sie drei Stunden lang jedes Mal zusammengezuckt, wenn sich ihr ein anderes Fahrzeug näherte. Die letzte halbe Stunde lang war die Straße dann einspurig geworden; mit gelegentlichen Notbuchten am Rand, wo man bei Gegenverkehr zu warten hatte. So fühlte sich Cody erschöpft und ausgelaugt, als sie das >Willkommen<-Schild erreichte.
    An einem Engpass, wo sich die Hügel steil zu beiden Seiten der Straße erhoben, stand auf einer Anhöhe zu ihrer Rechten eine kleine Steinkirche, daneben ein schmutziges Schild, das sie als >Kirche Unserer Lieben Frau vom See< auswies. Das Gebäude sah aus, als sei es irgendwann im Mittelalter erbaut worden, doch sie konnte es nicht genauer betrachten, weil sie auf die Straße achten musste. Sie bog um die letzte Kurve und gelangte in das eigentliche Tal.
    Vor ihr erstreckte sich sattgrünes, sanft gewelltes Weideland, dahinter lag eine Ansammlung von Häusern und Geschäften, über denen eine mächtige graue Burg thronte. Im Westen schimmerte ein schier endlos anmutender See; die Berge am anderen Ufer wirkten aus dieser Entfernung wie eine verschwommene schiefergraue Masse.
    Von hier aus konnte sie auch die zweite Attraktion des Städtchens sehen, die Whiskybrennerei. Sie lag in der Nähe eines niedrigen Hügels neben einem schmalen Fluss, der vom Nordhang des Tales her bis zum See führte. Ein paar Wolken zogen am Himmel dahin und warfen ihren Schatten über die Schafe auf den Weiden, weiße Farbtupfer auf grünem Gras. Im Vorbeifahren bemerkte Cody, dass einige Tiere mit pinkfarbener Leuchtfarbe aufgepinselte Nummern auf dem Fell trugen. Die waren jedenfalls besser zu sehen

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