Die Verbannung
als Brandzeichen, dachte sie.
Überall leuchteten violette, gelbe und weiße Wildblumen. Hier und da zogen sich zerbröckelnde Steinmauern durch das Land, die gelegentlich sogar noch ihren ursprünglichen Zweck als Grenzzäune erfüllten, wenn sie nicht durch Stacheldraht ersetzt worden waren. Die Straße beschrieb eine Biegung, wurde wieder zweispurig und führte direkt in die Stadt hinein. Sie brauchte ein paar Sekunden, um sich daran zu erinnern, welche Fahrspur denn nun die ihre war.
Die meisten Häuser des Städtchens waren aus weiß getünchten Ziegeln erbaut, nur eines prunkte mit einer Ladenfront aus rotem Backstein. >MacGregor's< stand in großen Buchstaben auf dem Fenster. Kurz vor dem Kreisverkehr gab es noch ein Bürogebäude im Tudorstil. Die Straße war sehr schmal, was die Leute aber nicht daran hinderte, ihre Autos am Bordstein zu parken und eine Spur zu blockieren. Cody hielt sich so weit links wie möglich, hatte aber immer Angst, versehentlich eines der parkenden Autos zu streifen, weil sie den Abstand nicht richtig einschätzen konnte. Zum Glück herrschte nur wenig Verkehr, und bis auf eine junge Mutter mit Kinderwagen sah sie auch keine Fußgänger.
Sechs Straßen liefen an dem Kreisverkehr zusammen, der anscheinend den Stadtmittelpunkt bildete. Cody drehte ein paar Runden, um die Schilder zu studieren, die ihr den Weg zur Destillerie, der Burg, der High School, der Presbyterianerkirche und dem Broch Sidhe wiesen. Der Turm lag in der Richtung, aus der sie gekommen war. Seufzend bog sie aus dem Kreisverkehr ab und fuhr die Straße erneut hoch.
Sie war schon beinahe wieder an der Königin-Anne-Garnison angelangt, als sie das kleine schwarz-weiße Schild zu ihrer Linken sah, das ihr den Weg zum Turm wies. Der Parkplatz lag inmitten der bewaldeten Hügel vor dem mit Steinplatten gepflasterten Pfad, der sich zum Broch Sidhe emporschlängelte, wie ein großer holzgeschnitzter Pfeil verriet. Cody parkte, schloss den Wagen ab und ging los.
Überall wuchsen riesige Kiefern und Eichen. Im Gras schimmerten ringförmig angeordnete braune und weiße Pilze. Feenringe nannte man diese Pilzgruppen, hatte Cody irgendwo gelesen, und in der Tat erinnerten die Pilze an winzige, tanzende Gestalten.
Der Weg endete am Turm. Er kam ihr sogar in einem Land, das Geschichte aus jeder Pore atmete, uralt vor; das graue, halb zerfallene Gestein war dick mit Moos überwuchert, das zu ihrem Erstaunen sorgfältig gemähte Gras auf dem Boden des Turminneren mit kleinen schwarzen Pilzen übersät. Zerbröckelte Stufen verliefen im Kreis an der Wand entlang und endeten in der Nähe der Turmkrone, wo der Ast einer mächtigen Eiche durch eine Lücke im Mauerwerk ragte, die einst ein Fenster gewesen sein musste.
Zwar stand die Sonne hoch am Himmel, aber in dieser Höhenlage erforderte die Temperatur trotzdem eine wärmende Jacke. Fast das ganze Turminnere lag im Schatten der Eiche, kühl und still wie eine Höhle.
Und was jetzt? Cody stand in der Mitte des Turmes und drehte sich einmal um die eigene Achse. Außer ihr war niemand hier, keine Touristen und ganz sicher keine Einheimischen. Auch keine Feen, mit deren Anwesenheit sie ohnehin nicht gerechnet hatte. Allmählich fragte sie sich, ob die ganze Reise nicht ein großer Fehler gewesen war. Aber dies war der Ort, wo man die letzten Spuren von Dylan gefunden hatte, und sie war nun einmal bis hierher gekommen, also musste sie die Sache auch zu Ende bringen.
»Hallo!« Wie rief man eine Fee herbei? Sie hatte Furcht erregende Geschichten von den kleinen Leuten gelesen, die Menschen in ihr Feenland lockten, Babys gegen Wechselbälger austauschten und die Luft aus Autoreifen ließen. Ihre hervorstechendste Eigenschaft war die Lust am Schabernack, und Dylans Geschichten über Sinann passten zu diesem Bild. Codys Herz begann zu hämmern, als sie daran dachte, was mit ihr geschehen könnte, falls sie die Fee wirklich fand. Was ihr immer unwahrscheinlicher erschien. »Hallo?«
Direkt neben ihr, in der Mitte des Turmes, lag ein großer Stein, der aussah, als sei er seit Jahrhunderten nicht mehr von der Stelle bewegt worden. Sie verstaute die Schlüssel ihres Mietwagens in ihrer Handtasche, stellte diese auf den Boden, setzte sich auf den Stein und versuchte, sich zu entspannen. Es nutzte nichts, wenn sie sich selbst unter Stress setzte.
Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich darauf, ruhig und gleichmäßig durchzuatmen, bis ihr Herzschlag sich verlangsamte und ihre
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