Die Verbannung
Zeitpunkt...
Zwischen den verstreuten Papierbögen bemerkte sie auf einmal einer kleinen bunten Prospekt. Sie hob ihn auf. Hatte sie den schon einmal gesehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Es war eine billige Touristenreklame, in der die Sehenswürdigkeiten von Glen Ciorram angepriesen wurden. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Dylan hätte es sich garantiert nie träumen lassen, dass aus diesem Tal einmal ein Ferienort würde.
Innen in dem schmalen Faltbogen prangten Fotos der Attraktionen, die das Städtchen zu bieten hatte. Es gab eine Whiskydestillerie, die Führungen anbot, was ihr ungefähr so interessant erschien wie dem Gras beim Wachsen zuzuschauen. Ferner wurde der Besuch eines historischen Gebäudes empfohlen, der Königin-Anne-Garnison, einer Armeebaracke, die zu einem von April bis Oktober geöffneten Museum umfunktioniert worden war. Ciorrams dritte Sehenswürdigkeit erregte jedoch Codys Aufmerksamkeit. Broch Sidhe ließ eine kleine Glocke in ihrem Gedächtnis erklingen. Dylan hatte ihr von der Fee erzählt, die ihn ins 18. Jahrhundert entführt hatte. Angeblich hatte sie in einem uralten, verfallenen Turm gelebt. Broch Sidhe wurde in dem Prospekt mit >Feenturm< übersetzt. Und genau dort hatte die Polizei nach Dylans Verschwinden seine Reisetasche und andere Habseligkeiten gefunden.
Cody biss sich auf die Lippen. Ein Plan entstand in ihrem Kopf und nahm sogleich Gestalt an.
»Ichmuss nach Schottland fahren.«
»Einen Teufel wirst du tun.« Sie saßen beim Frühstück. Cody hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, Ray hingegen sah aus, als habe er ausgezeichnet geschlafen. Er schien bester Laune zu sein, also platzte sie mit ihrem Plan heraus, als sie eine Schüssel Hafergrütze vor ihn hinstellte.
»0 doch, ich werde fahren.« Soweit es sie betraf, war die Diskussion damit beendet.
Ei sah sie an, als sei ihr über Nacht ein Buckel gewachsen. »Alleine? Bist du verrückt geworden?«
»Du kannst gerne mitkommen. Ich habe nichts dagegen.« Sie stellte ihre eigene Schüssel auf den Tisch und setzte sich.
»Sicher, ich kann mir ja auch einfach mal so eben ein paar Tage freinehmen ...«
»Dann fahre ich allein. Ich werde nicht lange bleiben.« Für Ray bildete sein Job den Mittelpunkt ihrer beider Leben, dem es alles andere unterzuordnen galt. Aber Cody beabsichtigte nicht, in diesem Punkt nachzugeben. Sie griff nach ihrem Löffel und stellte fest, dass ihr der Appetit vergangen war.
Ray schnaubte verächtlich. »Na, klar. Mach's gut, Schatz, ich bin mal kurz weg nach Schottland. Dauert nicht lange. Dein Abendessen steht in der Mikrowelle.«
Der Ärger trieb ihr das Blut in die Wangen. »Ich muss es tun, Raymond, und ich werde es tun.« Wenn eine Chance bestand, den Lauf der Geschichte zu verändern, dann musste sie sie nutzen. Sie konnte nicht zulassen, dass Dylans Sohn als kleiner Junge starb.
Auch Ray hatte seinen Löffel weggelegt. Sein Gesicht lief langsam rot an. »Warum? Warum musst du fünftausend Meilen weit reisen, nur um dir den Ort anzusehen, wo Dylan gestorben ist? Denn darum geht es dir doch nur, nicht wahr?«
Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? »Ich kann, es dir nicht erklären. Ich weiß nur, dass ich es tun muss. Es ist ja nicht so, als ob wir kein Geld für die Reise hätten.« Sie streute etwas Zucker in ihre Schüssel, hielt aber inne, als Ray mit einem Ruck seinen Stuhl zurückschob.
Ei war völlig außer sich. Eine totale Überreaktion. »Nein, das haben wir nicht! Nicht für so einen Unsinn! Nicht für deinen toten Lover!«
Codys Augen wurden groß. Wie konnte er es wagen, so etwas auch nur anzudeuten? Sie ließ den Löffel in die Zuckerdose zurückfallen. »Er war nie mein ...« Die Wut schnürte ihr die Kehle zu, sie brachte keinen Ton mehr heraus. Tränen stiegen ihr in die Augen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Sie hatte sich schon viel zu viel von diesem elenden, eifersüchtigen Kerl bieten lassen, nun reichte es ihr. »Ich fahre!«, krächzte sie.
»Cody ...«
Cody sprang auf, beugte sich über den Tisch und zeigte mit einem Finger auf Ray. Inzwischen bebte sie vor Zorn am ganzen Körper. Tränen brannten in ihren Augen. »Wie konnte ich nur von dir erwarten, dass du meine Freundschaft mit Dylan verstehst.« Sie unterdrückte ein Aufschluchzen, indem sie leise hustete, und fuhr fort: »Aber ich habe dich immer gebeten, diese Freundschaft wenigstens zu akzeptieren. Ich habe dir nie einen Grund gegeben, ihn als
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