Die Verbannung
verkrampften Muskeln sich zu lockern begannen. Diese Meditationstechnik hatte sie von Dylan gelernt, als sie bei ihm Unterricht genommen hatte. Manchmal hatte er die Schüler seiner Fechtkurse auch mit den Grundlagen asiatischen Kampfsports vertraut gemacht. In den Händen eines guten Kämpfers wird jeder Gegenstand zur Waffe, pflegte er zu sagen. Die schüchterne Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Kopf tat ihr gut. Schnuppernd sog sie den würzigen Duft von feuchtem Moos und Gras ein.
Ihre Gedanken schweiften in die Zeit zurück, als Dylan und sie Kinder gewesen waren und in den Wäldern hinter ihren. Elternhäusern gespielt hatten. Sie hatte keinen Bruder gehabt, Dylan überhaupt keine Geschwister. Seit sie denken konnte, waren sie unzertrennlich gewesen. Auch später, als sie schon erwachsen waren, hatte er ihr immer den Bruder ersetzt. Er hatte ihr beigebracht, ein Schwert zu handhaben, und sie hatte sein Interesse für alles Schottische geteilt. Auch jetzt noch liebte sie es, alte schottische Trachten zu tragen. Cody stutzte. Sie konnte Dylans Gegenwart auf einmal förmlich spüren, ja, sie meinte, ihn sogar riechen zu können. Als stünde er vor ihr, Schweißperlen auf der Stirn, mit durchgeschwitztem Hemd, wie er es so oft getan hatte ...
»Cody?«
»Dylan ...« Cody schlug die Augen auf. Sie war immer noch allein. Außer ihr war niemand hier, kein Dylan zu sehen. Aber es war seine Stimme gewesen, sie hatte sie ganz deutlich erkannt. Ihr Herz hämmerte so heftig, dass es in ihren Ohren dröhnte. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, und sie drehte sich ganz langsam um.
Immer noch nichts zu sehen. Oder - Moment mal. Cody schrak zusammen. Eine Gestalt kauerte auf den Stufen, direkt unter den Ästen der Eiche. Ein zierliches, weiß gekleidetes Persönchen, das die Arme um die Knie geschlungen hatte und sie anstarrte. Die Augen waren eisblau und blickten so durchdringend, dass Cody sich nicht länger wunderte, wieso sie den Blick hatte spüren können. »Ich wusste, dass du kommst.«
»Sinann?«
Das zarte Geschöpf gab keine Antwort, sondern hob nur den Kopf und musterte Cody prüfend. Endlich sagte sie: »Er hat dir also von mir erzählt?«
Cody nickte.
»Und was genau hat er gesagt?«
»Dass er von dir ins 18. Jahrhundert geschickt wurde. Und dass du ihm ein oder zwei Mal das Leben gerettet hast.«
Die Fee schnaubte. »Entschieden öfter als ein oder zwei Mal. Er hat ein seltenes Geschick, sich in Schwierigkeiten zu bringen, dieser Bursche.«
»Tut mir Leid, wenn ich mich geirrt habe. Aber weißt du, du kanntest ihn ja bis zu seinem Tod. Als er mir von dir erzählte, war er erst dreißig. Zweiunddreißig, meine ich.«
Die Fee antwortete nicht, sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein. Dann gab sie sich einen Ruck und wandte sich wieder an Cody. »Was willst du von mir? Ach, als ob ich das nicht schon wüsste.« Das klang, als sei sie sicher, dass es keine ehrenhaften Motive für Codys Anwesenheit geben könnte. Cody fragte sich, wie viel die Fee wusste.
»Wenn du schon weißt, warum ich hier bin, dann sag du es mir doch.«
Sinann sprang auf und flatterte die Stufen hinunter. »Ich könnte dir ja jetzt sagen, du sollst verschwinden. Was würdest du dann wohl machen?«
»Aber das wirst du nicht tun, und du weißt es. Du wirst es nicht tun, weil dir klar ist, dass du mich in die Vergangenheit zurückschicken musst.«
Die Fee seufzte nur und murmelte dann ein paar Worte in einer Sprache, die Cody nicht bestimmen konnte. Es mochte Gälisch sein, aber sie war sich nicht sicher, und der Ton der Fee legte den Schluss nahe, dass sie gut daran tat, nicht nachzufragen. Dann wechselte Sinann wieder ins Englische. »Das hätte von ihm kommen können! Genau das hat er mir vor ein paar Monaten auch gesagt. Und es stimmt, ich würde mich genauso wenig weigern, dich zurückzuschicken, wie ich ihm einen Dolch ins Herz stoßen könnte. Was geschehen ist, kann man nicht mehr ändern.«
Das triumphierende Lächeln auf Codys Gesicht erstarb augenblicklich. »Aber eben deshalb will ich ja in die Vergangenheit zurückreisen. Ich muss den Lauf der Geschichte ändern!«
»Glaub mir, Mädchen, zurückreisen wirst du, aber ändern kannst du nichts, so wie er bei Sheriffmuir nichts ausrichten und ich in all den Jahren nichts für mein Volk tun konnte. Trotzdem möchte ich, dass du dies hier mitnimmst.« Die Fee griff in den Ausschnitt ihres Kleides und förderte einen zusammengefalteten, vom Alter vergilbten
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