Die Verbannung
die Karten ein, die auf dem Tisch liegengeblieben waren, und begann, sie zu mischen.
»Don Giannino Catalano ist unvorsichtig gewesen«, sagte er plötzlich. »Das Mädchen ist sechzehn Jahre alt und hat es den alten Weibern erzählt. Es wird mit dem Kind auf dem Arm bei der Verhandlung erscheinen.« »Wenn ein Kind kommt«, sagte Gaetano gelassen. »Die aus San Leo werden auf Notzucht bestehen.« »Das wird Zeit haben, um auf die Welt zu kommen. Oder glauben Sie, daß man ihn so aufs Geratewohl nur kurz im Gefängnis behält? Ciccio Carmelo blieb ein Jahr in Untersuchungshaf …«
Stefano ging den eintönigen, von Sonnenflecken übersäten Strand entlang. Dort saß es sich gut auf einem Baumstumpf, man konnte die Augen schließen und die Zeit verstreichen lassen. Hinter seinem angewärmten Rücken waren abblätternde Mauern, der Kirchturm, die niedrigen Dächer, hier und da erschien ein Gesicht am Fenster, Leute gingen über die Straßen, die öde waren wie die Felder; dann schwindelnd hoch der braun-violette Hügel unter dem Himmel und die Wolken. Stefano hatte keine Furcht mehr, er schaute auf das Meer, das beinahe vom Ufer verborgen war, und lächelte über seine Erregung vorhin. Jetzt waren ihm seine wirren Gefühle klar. Von Elena wußte nur Giannino, der augenblicklich ganz andere Sorgen hatte. Er begriff auch, warum er heute morgen so erleichtert aufgeatmet hatte: das neue Abenteuer riß ihn aus seiner Langeweile, und er ahnte, daß mit Giannino das letzte Hindernis dahinschwand, das ihn von der wirklichen Einsamkeit trennte.
Stefano wußte, daß er traurig und verbittert war, und er dachte so arglos daran, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Sie glichen den Tropfen, die man aus einem Tuch herauswringt, und Stefano überließ sich ihrer Süße und murmelte: »Du tust mir leid, Mütterchen.«
Das Meer, das ihm vor den Augen getanzt hatte, wurde im Brennen dieser sinnlosen Tränen wieder so deutlich, daß er das sommerliche Gefühl der salzigen Wellen, die ihm in die Augen schlugen, wieder verspürte. Da schloß er die Augen und begriff, daß seine Erregung nicht vorüber war.
Stefano ging durch den Sand zurück, gab dem Strunk eines Feigenkaktus einen Fußtritt und beschloß, nicht länger am Meer zu bleiben, denn vielleicht war es das Meer, das sein Blut und seine Nerven so erregte. Er überlegte, daß vielleicht seit Monaten die Salzluf, die Feigen und die Säfe dieser Erde ihm ins Blut gingen und ihn so an sich zogen.
Er bog auf die Deichstraße ein, die am Meer entlang zu Concias Haus führte. Fast augenblicks blieb er stehen, denn diesen Weg war er allzu of in seinem wütendsten Schmerz gegangen, als daß er ihn jetzt hätte gehen können. Er kehrte um und wanderte auf der Landstraße weiter, die sich um den Hügel wand, fort vom Meer ins Binnenland hinein. Dort unten gab es wenigstens Bäume.
In Wirklichkeit hatte Stefano nichts zu überdenken, weder Angst noch wirklichen Schmerz. Aber seine Ungeduld ließ ihn auf der steinigen Straße Unbehagen und Unruhe empfinden, obwohl seine Lage doch menschlich und geruhsam war. Giannino, ja, der hatte wirklich zu leiden, und doch stellte sich Giannino vielleicht nicht so an wie er.
Während er die Wolkenschatten auf den Feldern betrachtete, begriff Stefano zum ersten Mal wirklich, daß Giannino im Gefängnis war. Eine fast körperliche deutliche Erinnerung stieg in ihm auf, an einen barschen Befehl, an das Klappern von Türen, an eine Stimme, dann eine Tür, die ihm vor der Nase zugeschlagen wurde, und an Schritte, die die Stimme in dem Gang ablösten. Damals war wie heute ein Tag mit weißen Wolken, die als einzige Wesen am Himmel hinter dem Gitter dazu verleiteten, von ihren Schatten auf der unsichtbaren Erde zu träumen. Er ließ seine Augen über die Felder, fern über die kahlen Bäume schweifen, um seine Freiheit zu spüren.
Vielleicht dachte Giannino an diese Felder, an eben diesen Horizont und hätte wer weiß was darum gegeben, um an seiner Stelle zu sein, um wie er unter dem Himmel einherzuwandern. Aber es war heute sein erster Tag, und vielleicht lachte Giannino, und die Zelle war gar keine Zelle, weil es von einem Augenblick zum anderen möglich war, daß sich alles als Irrtum herausstellte, daß die Tür sich aufat und daß man ihm sagte, er könne gehen. Oder vielleicht würde Giannino auch nach einem Jahr noch lachen, selbst hinter Gittern: er war der Mensch danach. In einem Sonnenstreifen kam ein Männlein in dunklem, langem
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