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Die Verbannung

Die Verbannung

Titel: Die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cesare Pavese
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Kasack mit schwankendem Schritt auf ihn zu. Es kam vom alten Dorf herunter und stützte sich auf einen Stock: es war Barbariccia. Stefano biß die Zähne zusammen, entschlossen, weiterzugehen, ohne ihn anzuhören. Aber je näher sie einander kamen, um so mehr Mitleid empfand er mit diesem Schritt, mit diesen schmutzigen, am Boden hinschleifenden Lappen, mit diesen knochigen, über dem Stock gefalteten Händen. Barbariccia blieb nicht stehen. Stefano war es schließlich, der etwas sagte, während er in seiner Tasche nach seinen Zigaretten suchte, und Barbariccia, der schon an ihm vorüber war, antwortete beflissen: »Wie befehlen?« Aber Stefano in seiner Verwirrtheit winkte ihm nur einen Gruß zu und ging weiter.
    In seiner mitleidigen Stimmung ließ er seinen Blick über das Auf und Ab der Äcker wandern, wo seltene Pfade oder Giebel anzeigten, daß hinter einem Hang, hinter einem Gehölz ein Haus stand. Kein einziger Bauer war auf den Stoppelfeldern. Sonst war er Bauern begegnet, die alles in allem wie Barbariccia gekleidet waren, die auf der Kruppe eines Eselchens saßen und flink an ihre Mütze griffen, oder vermummten dunklen Frauen mit Körben, denen Ziegen und kleine Kinder folgten. Dann hatte er empfunden und bedacht, was ein hartes mühseliges Leben und die gräßlichste aller Einsamkeiten ist, die Einsamkeit einer ganzen Familie auf einem undankbaren Boden. Eines Tages hatte er in Fenoalteas Laden gesagt: »Das alte Dorf da oben sieht aus wie ein Gefängnis, das man dort errichtet hat, damit alle es sehen.« »Viele von uns hier hätten es nötig«, hatte der Vater Fenoaltea geantwortet.
    Jetzt stand Stefano still und betrachtete die grauen Häuser dort oben. Dachte auch Giannino an sie, wenn er von dem hohen Himmel träumte? Es kam ihm in den Sinn, daß er ihn nie danach gefragt hatte, ob er an jenem längst vergangenen Sonntag seiner Ankunf der Mann auf dem Platz war, der rittlings gleichgültig auf seinem Stuhl saß und ihn mit Handschellen, mit schmerzenden Gliedern und von der Reise benommen, vorübergehen sah. Giannino würde nun seinerseits diese Reise machen, nicht den unsichtbaren Wänden eines fernen Dorfes entgegen, sondern stadtwärts, dem wirklichen Gefängnis entgegen. Unversehens kam ihm der Gedanke, daß jeden Tag jemand ins Gefängnis kommt, so wie jeden Tag jemand stirbt. Wußten das, sahen das die Frauen, die weiße Carmela, die Mutter, Gianninos Leute und Concia? Und die andere, die Vergewaltigte, und ihre alten Weiber und alle anderen? Jeden Tag kommt jemand ins Gefängnis, jeden Tag schließen sich die vier Wände um jemand zusammen, und das abgeschiedene bange Leben in der Einsamkeit beginnt. Stefano beschloß, auf diese Weise an Giannino zu denken. Wirrköpfe wie er, Haderlumpen wie diese Bauern kamen jeden Tag, um dieses gewaltige Gemäuer mit ihren unruhigen Leibern und schlaflosen Gedanken zu bevölkern.
    Beinahe lächelnd fragte sich Stefano, was einem Himmel, einem Menschengesicht, einer Straße, die sich zwischen Olivenbäumen verliert, wohl so Wesentliches innewohne, daß das Blut eines Gefangenen mit solcher Begierde nach ihnen gegen das Gitter pochte. Führe ich etwa ein gar so anderes Leben? sagte er und schnitt eine Grimasse; aber er wußte, daß er log, knirschte mit den Zähnen und sog die leere Luf in sich ein. Als er an diesem Tag an seinem Tischchen in der Wirtschaf aß, kam es ihm in den Sinn, daß er sich nicht daran erinnerte, wann er Giannino zum letzten Mal gesehen hatte. Vielleicht gestern auf der Straße? Oder in der Wirtschaf? Oder am Tag zuvor? Er kam nicht dahinter. Er wollte es wissen, denn er ahnte, daß Giannino nur noch als Erinnerung in ihm leben werde, vorläufig und pathetisch wie alle Erinnerungen, wie die an den längst vergangenen Sonntag, an dem er vielleicht ein anderer gewesen war. Jetzt würde er wirklich allein sein, und fast gefiel ihm das, und die Bitterkeit vom Strand übermannte ihn von neuem. Die alte Wirtin, die ihm seinen Teller brachte, sagte ihm, sie habe Obst, Orangen, die ersten, die sich auftreiben ließen. Stefano aß nach dem Hauptgericht eine Orange, zwei Orangen, verzehrte sie mit einem Stück Brot, denn Brot zu brechen und zu kauen und dabei ins Leere zu schauen, erinnerte ihn ans Gefängnis und an die einsame Demut der Zelle. Vielleicht aß auch Giannino in diesem Augenblick eine Orange. Vielleicht gehörte er noch zu dieser Welt und saß mit dem Wachtmeister zu Tische.
    Am Nachmittag ging Stefano zur Kaserne, er wollte

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