Die Verbindung: Thriller (German Edition)
nicht, ihre Frage zu ignorieren oder das Thema zu wechseln. Alice hatte wie ihre Mutter wenig für alberne Ausflüchte übrig. Sie war ein sachliches Mädchen, das ihren Eltern und, ziemlich undiplomatisch, ihren Kindergartenkumpeln im Alter von vier Jahren mitgeteilt hatte, dass der Weihnachtsmann ein »Wesen aus Märchen und Legende« sei. Was Reife und Entwicklung betraf, war sie vermutlich schon drei oder vier oder fünf Jahre weiter als er im gleichen Alter. Das war ein verteufelt großer Abstand, und Carlyle wusste, dass er nur größer werden würde.
»Ist er ermordet worden?« Ihr Ton war nüchtern. Ihr Gesichtsausdruck besagte: Du kannst mir die Wahrheit erzählen, das ist nichts Besonderes.
»Das muss noch bestätigt werden«, sagte Carlyle. »Wir wissen es noch nicht.«
Alice musterte ihn genauer. »Aber du wirst es rausfinden?«
»Ja.«
»Und dann kommt er ins Gefängnis?«
»Derjenige, der es getan hat? Ja, das ist der Sinn der Sache.«
»Damit er es nicht wieder tun kann?«
»Ja.« Carlyle nickte. »Der Sinn ist, dass sie ins Gefängnis gehen, damit der Rest von uns geschützt ist.« Er dachte eine Minute darüber nach. »Wenn sie im Gefängnis sind, lernen sie vielleicht, dass sie etwas Unrechtes getan haben. Das ist ihre beste Chance, um sicherzugehen, dass sie es nicht wieder tun, wenn sie entlassen werden.«
Alice verzog das Gesicht. »Aber das passiert nicht sehr oft, nicht?«
Carlyle lachte. »Schwer zu sagen, mein Schatz. Schwer zu sagen …«
Sie dachte noch etwas darüber nach. »Es ist gut, dass du ihn erwischen wirst. Du kannst mir heute Abend davon erzählen.« Sie machte sich wieder auf den Weg. »Bis später!«
»Bis später!«
Alice hüpfte in die Schule und winkte ihrer Lehrerin Mrs Matterface zu, die ihren Dienst am Eingangstor versah, während sie zugleich den Schulhof nach einer ihrer jungen Freundinnen absuchte. Carlyle stand da und sah seine Tochter hineingehen, gesund und munter. Er lungerte noch eine Minute herum, während er Helen eine SMS schickte, um ihr mitzuteilen, dass er seine Mission erfolgreich absolviert hatte. Eine letzte Nachzüglerin schaffte es gerade noch, sich hineinzuschleichen, bevor die Eingangstür feierlich geschlossen wurde und der Schultag offiziell begann. Carlyle wandte sich mit dem befriedigenden Gefühl ab, eine Aufgabe gut erledigt zu haben, und ging in Richtung U-Bahn.
Nachdem er Alice in die Schule gebracht hatte, kehrte Carlyle nach Hause zurück, um vielleicht zwei Stunden zu schlafen. Zu Hause war eine Vierzimmerwohnung von knapp achtzig Quadratmetern im dreizehnten Stock des Winter Garden House, die nach Süden zum Fluss hinausging und einen schönen Ausblick auf das South Bank Centre, das London Eye und Big Ben bot. Das WGH war ein fünfzehnstöckiger Wohnblock aus den Sechzigerjahren mit dreißig Wohnungen, der an der Macklin Street am Nordende der Drury Lane lag. Ihre Wohnung war von Carlyles Schwiegervater 1984 für sechzehntausend Pfund Sterling vom Camden Council gekauft worden. Mit einem ausgezeichneten Sinn für den richtigen Zeitpunkt hatte er mit einem schweren Herzinfarkt genau fünf Monate vor Alices Geburt den Löffel abgegeben. Helens Mutter war gerne bereit gewesen, ihnen die Wohnung zu überlassen, da sie selbst Jahre zuvor ausgezogen war: Eine Woche, nachdem ihre Tochter die Schule abgeschlossen hatte, ließ sie ihren Mann sitzen und brach nach Brighton auf, der lebendigen Stadt an der Küste, die eine Stunde von London entfernt war. Falls es nicht dieses glückliche Zusammentreffen äußerer Umstände gegeben hätte, würde die Familie weit entfernt von Covent Garden wohnen, und Carlyle wäre dazu verdammt, lebenslänglich mithilfe von Londons chronisch unterfinanziertem und unzuverlässigem öffentlichem Verkehrssystem hin und her zu pendeln.
Als er kurz vor ein Uhr aufwachte, blieb er noch eine Weile im Bett liegen und dachte über nichts Besonderes nach. Schließlich stand er auf, duschte, zog sich an und ging nach draußen. Er überquerte die einspurige Einbahnstraße und betrat das Il Buffone, ein kleines italienisches Café im Stil der Fünfzigerjahre auf der anderen Seite der Macklin Street. Drinnen war gerade genug Platz für die Theke und drei schäbige Nischen, die jeweils Platz für vier Leute boten – oder sechs, wenn sie eng zusammenrückten. Man hatte also die Wahl: Entweder riskierte man, drinnen einen zufälligen Tischnachbarn zu bekommen, oder man nahm einen der kleinen Tische draußen auf der
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