Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
den Tisch. Er fuhr ein paar Zentimeter vor und zurück, dann stand er still.
»Das ging schnell«, flüsterte sie und sprang auf. Während sie hektisch um sich blickte, bemerkte sie, dass jemand das Café verließ. Sie ließ Susanne sitzen und rannte dem Mann nach. Der Jungfernstieg war voller Menschen. Marion ließ ihre Augen ratlos über die Menge gleiten, aber es war unmöglich, ihn in dem Gedränge auszumachen. Aufgewühlt ging sie ins Café zurück.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Susanne und zeigte verwundert auf das Spielzeugauto.
Marion ließ sich auf den Stuhl fallen.
»Er ist hier.«
»Wer, er?«
»Nikolai. Der Russe.«
Susanne wurde nervös. »Sind wir in Gefahr?«
»Nein. Erstens geht es nur um mich. Zweitens sitzen mindestens fünfzig Gäste in diesem Raum. Beruhige dich«, tröstete Marion ihre Freundin.
Nikolai hatte mit Tesafilm einen Zettel auf das Autodach geklebt. Marion riss das Papier herunter und entfaltete es. Es war nur eine Zeile:
»Ich hätte es nicht besser machen können. Hut ab! Gruß, N.«
Er hatte sie also wiedergefunden. Jetzt meldete er sich zurück, um sie einzuschüchtern. Und das war ihm gelungen. Hoffentlich haben ihn die Thailänder wenigstens ordentlich durch die Mangel gedreht, dachte sie.
Sie zog einen Notizblock aus der Tasche, kritzelte schnell einige Wörter auf ein Blatt und legte die Nachricht gut sichtbar auf den Tisch. Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass Nikolai in der Nähe war. Susanne zahlte die Rechnung, und sie verließen eilig das Café.
Marion und Susanne saßen schon seit Stunden in der Küche, als sie Thomas die Tür aufschließen hörten. Er summte die alte Traveller-Hymne »Hotel California«, die in jeder Strandbar diesseits und jenseits des Äquators gedudelt wurde.
»Gute Neuigkeiten. Frank hat ein großes Projekt an Land gezogen, den Innenausbau einer Ladenkette. Übernächste Woche fange ich an, bei ihm zu arbeiten!«, rief er schon vom Flur her.
Polternd kam er in die Küche, steuerte direkt zum Kühlschrank und öffnete ihn. »Was ist los? Ist euch eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte er.
»Keine Laus. Uns ist ein Ferrari über die Leber gefahren «, sagte Susanne. »Wenn du Bier suchst, kommst du zu spät. Wir haben alles ausgetrunken und sind zu meinen Schnapsreserven übergegangen. Willst du einen?«
»Au!« Thomas war so schnell herumgefahren, dass er sich das Knie an der Kühlschranktür gestoßen hatte. »Wiederhole das bitte noch mal.«
»Das Bier ist alle.«
»Nein, das andere. Habe ich das Wort ›Ferrari‹ richtig verstanden?«, fragte er und setzte sich auf den freien Stuhl. Marion zeigte auf das Spielzeugauto.
Thomas stöhnte auf. »Schnaps. Einen Fünffachen.«
Sie diskutierten die halbe Nacht, bis auch die Schnapsvorräte zur Neige gingen. Am Ende einigten sie sich darauf, nichts zu unternehmen, bis Professor Kirschner mit der Übersetzung fertig war. Marion wollte ihn am nächsten Morgen als Erstes über Nikolais Auftauchen unterrichten. Sie würden es so einrichten, dass sie nie allein war, weder in der Wohnung noch auf der Straße.
»Wer hätte gedacht, dass ich jemals dein Ritter ohne Furcht und Tadel sein würde«, sagte Thomas. »Jetzt kannst du mir nicht mehr weglaufen.«
Marion missfiel die Aussicht, sich nicht frei bewegen zu können, aber es war die einzige vernünftige Lösung. Sie hatten kurz erwogen, die Polizei einzuschalten, aber wie sollten sie erklären, dass ein dubioser Russe um ihr Haus schlich, ohne ihre eigene Verstrickung in die Angelegenheit zu offenbaren? Sie würden sich eine Menge Ärger einhandeln, aber keinen Schutz bekommen. Es war besser, Nikolai davon zu überzeugen, dass sie das Kästchen an einen Ort gebracht hatten, wo es vor seinem Zugriff sicher war. Sie beschlossen, am nächsten Morgen ein Schließfach bei einer Bank zu eröffnen. Vielleicht beobachtete er sie dabei. Sie konnten den Ferrari dort deponieren. Oder ein Paket Schildkrötenfutter. Irgendwann würde Nikolai die Geduld ausgehen.
* * *
Nikolai bog in die Eimsbütteler Straße ein und achtete darauf, die von den Straßenlaternen erleuchteten Passagen zu meiden. Nach etwa fünfzig Metern blieb er vor einem unbeschrifteten weißen VW-Lieferwagen stehen, schloss die Beifahrertür auf und kletterte schnell hinein. Er legte sich einen Daunenschlafsack über die Beine und fischte eine Thermoskanne und eine fettige Tüte mit einem lauwarmen Stück Pizza aus seiner Tasche. Ein weiterer langer, kalter Abend –
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