Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
der zehnte, seit er sich Marion in dem Café in der Innenstadt zu erkennen gegeben hatte – lag vor ihm, und er bedauerte, dass er ein Auto ohne Standheizung gekauft hatte.
Er lehnte sich bequem in den Sitz, bis er das Mietshaus auf der anderen Straßenseite gut im Rückspiegel sehen konnte. Die Lampen in Susanne Hartmanns Wohnung waren eingeschaltet; hin und wieder bewegte sich jemand hinter den Fenstern. Aus der Entfernung konnte er nicht erkennen, ob es Susanne, Marion oder ihr Freund war. Nikolai zerknüllte frustriert die Pizzatüte und warf sie in den Fußraum. Ihm ging langsam die Geduld aus. Er war es gewohnt, der Spielmacher zu sein, und das untätige Warten machte ihn mürbe.
Marion wanderte ruhelos von Raum zu Raum. Sie konnte langsam nachfühlen, wie es Bruder Tuck in der Kiste auf dem Markt ergangen war. Mittlerweile trug sie sich ebenfalls mit Ausbruchgedanken, obwohl sie Thomas versprochen hatte, die Wohnung nicht zu verlassen. Er war gegen Mittag zu Frank gefahren, um über den neuen Job zu sprechen. Im Prinzip war Marion froh, dass Thomas und Susanne es auf sich nahmen, sie bei jedem Gang vor die Tür zu begleiten, aber trotzdem war das Arrangement für alle Beteiligten zur Zerreißprobe geworden. Obwohl es unfair und undankbar war, fühlte sie sich von den beiden gegängelt. Sie glaubte ohnehin, dass der Russe längst aus Hamburg verschwunden war. Seit dem Vorfall mit dem Ferrari hatte Nikolai nichts mehr von sich hören lassen.
Das Telefon riss Marion aus ihren Grübeleien. Es war Susanne. Sie saß noch in der Redaktion fest.
»Ich schaffe es nicht vor acht, aber du brauchst nichts zu kochen. Ich dachte, wir gehen zum Inder.«
»Der Kühlschrank ist sowieso fast leer. Ich könnte einkaufen gehen.«
»Untersteh dich. Du bleibst zu Hause.«
»Wenn du meinst.«
»Das meine ich allerdings. Ich muss Schluss machen, die Chefredakteurin tobt gerade durch die Gänge. Bis dann.«
Marion trat ans Fenster und sah auf die Straße. Fünf Uhr, und es war schon stockdunkel. In den Fenstern pulsierten kitschige rot-grün-goldene Weihnachtslichter, höchstwahrscheinlich made in China. Ein Mann mit hochgestelltem Mantelkragen, eine Aktentasche unterm Arm, eilte auf der anderen Straßenseite zu seiner Wohnung und prallte beinahe gegen eine junge Frau, die mit einem dick vermummten Kleinkind im Schlepptau aus der Tür trat. Ein heftiger Windstoß blies die letzten Blätter von den die Straße säumenden Linden. Grünkohlwetter.
»Hallo, Nikolai. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt in Thailand. Sie verschwenden Ihre Zeit: Das Jadepferd ist an einem sicheren Ort. M.«
Nikolai brauchte kein Licht, um zu lesen, was auf dem Zettel stand, den Marion ihm in dem Café an der Alster hinterlassen hatte. Ein sicherer Ort. Marion und ihr Freund hatten ein Bankschließfach eröffnet, aber hatten sie die Pferdefigur dort deponiert oder abgeholt? Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Vor drei Tagen hatte er erstmals die Möglichkeit gehabt, unbemerkt von den Nachbarn in die Wohnung dieser Susanne Hartmann einzubrechen und sie zu durchsuchen. Er war kaum überrascht gewesen, dass die Figur nicht dort war, aber das hatte nichts zu bedeuten. Marion hatte sich bisher als äußerst fantasievoll erwiesen, wenn es darum ging, falsche Fährten zu legen. Es gab nur eine Möglichkeit herauszubekommen, wo sie das Jadepferd verbarg: Er musste sie selbst fragen. Leider erwies es sich als ausgesprochen schwierig, an sie heranzukommen. Wenn Marion das Haus verließ, wurde sie grundsätzlich von ihren Freunden begleitet, und in den späten Abendstunden, wenn sich alle Welt vor den Fernseher zurückzog und ihm freie Bahn ließ, war sie bisher auch in der Wohnung nie allein gewesen.
Nikolai schüttete ein paar Smarties auf seine Handfläche und sortierte sie abwesend nach Farben. Mit Hilfe des gestohlenen Adressbuchs war es verhältnismäßig einfach gewesen, Marion auf die Spur zu kommen, aber jetzt war er ratlos. Das erste Mal seit langer Zeit wusste Nikolai nicht, wie er weiter vorgehen sollte. Deutschland war Marions Heimatland, sie hatte alle Vorteile auf ihrer Seite. China war für ihn ein weitaus einfacheres Terrain gewesen.
In der Wohnung wurden die Lichter ausgeschaltet. Vorsorglich schälte er sich aus dem Schlafsack und griff in seine Tasche.
Vor dem Haus wandte sich Marion nach links, in Richtung des Eimsbütteler Zentrums mit seinen Boutiquen, Kneipen und Supermärkten voller Grünkohl. In einiger
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