Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Entfernung hastete ein Passant den Bürgersteig entlang, sonst war die Straße menschenleer. Das Geräusch einer sich schließenden Autotür ließ sie herumfahren, aber sie konnte niemanden sehen. Nervös umklammerte sie ihren Regenschirm, den sie im letzten Moment noch mitgenommen hatte. Wenn Nikolai wirklich in der Nähe war, hatte er jetzt seine Chance. Ein Wagen bog um die Ecke. Der Lichtkegel glitt über kahle Bäume und eine alte Dame mit einem Gehwagen. Kein Russe. Er hatte aufgegeben.
Mit schnellen Schritten strebte Marion auf die keine dreihundert Meter entfernte, hell erleuchtete Fruchtallee zu.
Nikolai hatte sich hinter ein parkendes Auto geduckt, bevor die Scheinwerfer ihn erfassen konnten. Eine alte Frau, schwer auf ihre Gehhilfe gestützt, schlich mit einem misstrauischen Seitenblick an ihm vorbei. Er grüßte sie mit einem Nicken, was sie zu beruhigen schien. Nikolai erhob sich und bewegte sich, jede Deckung ausnutzend, lautlos weiter. Marion war immer noch auf der Hut, aber ihre Dummheit, das Haus nach Einbruch der Dunkelheit allein zu verlassen, würde sie schnell bereuen. Kurz vor der Hauptstraße gab es eine unbeleuchtete Hofeinfahrt, die perfekt für seine Zwecke geeignet war.
Jemand packte sie am Arm. Marion wirbelte herum und hieb dem Angreifer mit voller Wucht ihren Schirm gegen die Seite. Der Mann ließ sie sofort los.
»Bist du verrückt geworden? Das tat weh«, keuchte er.
»Michael! Mann, hast du mich erschreckt.«
»Das habe ich gemerkt. Hast du in China Kung Fu gelernt?«
»Warum schleichst du dich auch so an? Wo willst du hin?«
»Einkaufen. Ich habe deine komische Mütze gesehen und bin hinter dir hergelaufen. Ich nehme an, dass du das Gleiche vorhast.«
Marion hakte sich erleichtert bei Susannes Nachbarn unter. »Habe ich. Was hältst du von einem Grünkohlessen heute Abend?«
Das Telefon klingelte. Marion stülpte einen Deckel über den Kochtopf und rannte in den Flur.
»Reuter.«
» Nin hao, Frau Reuter.«
»Guten Abend, Professor Kirschner. Wie läuft es?«
»Gut. Es ist wesentlich einfacher, als ich dachte. Die Bambustäfelchen sind in Lishu geschrieben, einer vor über zweitausend Jahren entwickelten Kanzleischrift, die sich in der Zwischenzeit kaum verändert hat.«
»Was steht darauf? Sind sie echt?«
»Ich habe einen Span von einem der Stäbchen abgelöst und lasse das Alter mit der C14-Methode bestimmen. Es dauert noch einige Tage, bis ich das Ergebnis habe, vorher möchte ich nichts dazu sagen. Können Sie sich so lange gedulden?«
»Es fällt mir schwer.«
»Dafür ist die Enthüllung dann umso spektakulärer. Ich verrate Ihnen nur so viel: Wenn die Nachricht auf den Täfelchen jemals ihren Empfänger erreicht hätte, wäre die Geschichte Zentralasiens und Europas anders verlaufen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie kennen doch bestimmt die These, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Orkan auslösen kann. Nun, hier verhält es sich ebenso: Ein paar Zeichen, geschrieben auf eine Handvoll unscheinbarer Bambusstäbchen, hätte die Welt verändern können. Da die Welt so ist, wie sie ist, glaube ich, dass der Bote auf dem Weg zu seinem Bestimmungsort abgefangen wurde.«
»Sie machen es wirklich spannend. Und was ist mit der Figur? Was hat es mit dem Schatz auf sich?«
»Bei der Aufschrift handelt es sich um eine blumige Beschreibung des Generals und seiner zukünftigen Heldentaten. Ein ›Schatzplan‹, wie einige meiner Kollegen hoffen, ist es auf keinen Fall. Die Bambustäfelchen sind ein wesentlich spannenderer Lesestoff.«
»Ist es das fehlende Teil zu dem Stück im Museum?«
»Ich habe die Bruchkante mit einem Foto des hinteren Teils aus dem Museumskatalog verglichen. Es scheint zu passen, aber um hundertprozentige Gewissheit zu bekommen, müsste man die beiden Teile natürlich aneinanderlegen.«
»Sobald die Figur in Xi’an ist, werden wir die Gewissheit haben.«
Professor Kirschner zögerte, dann fragte er: »Sie sind immer noch davon überzeugt, dass Sie die Figur und die Bambustafeln zurückschicken wollen?«
Marion wurde hellhörig. Wollte er das kleine Jadepferd etwa behalten? Hatte sein Zauber auch schon auf den seriösen Wissenschaftler gewirkt? Sie war davon ausgegangen, dass Professor Kirschner ausschließlich professionelles Interesse daran hatte.
»Warum sollte ich sie nicht nach Xi’an senden? Wir waren uns doch einig, dass der Fund das Eigentum Chinas ist.«
Er schwieg.
»Die Figur und auch die Tafeln gehen
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