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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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lieber offen getragen, aber wenn sie den Männern gefallen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als die chinesische Tracht zu imitieren. Ihr Kleid war ebenfalls nach chinesischem Geschmack, wenn auch aus billigen Stoffen: Über einer geblümten Bluse mit weiten Ärmeln trug sie einen bodenlangen gelben Rock, der so hoch geschnitten war, dass er ihre Brüste bedeckte und in lockeren Falten um ihren Körper schwang. Tamaskana war viel zu dünn, um als hübsch zu gelten, aber ihre Aufmachung lenkte die Männer sowohl von ihrer Magerkeit als auch von ihrer gebrochenen Nase ab. Und von ihren Augen, die den meisten ihrer Kunden unheimlich waren: Das rechte Auge war von gewöhnlichem Dunkelbraun, das linke leuchtete in einem intensiven Grün. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass auch die Urgroßmutter diese seltsamen Augen gehabt hatte.
    Tamaskana holte tief Luft, zwang sich ein Lächeln ab und stieß die Tür auf. Der erste von den vielen Männern des Tages sah ihr lüstern entgegen.

    Noch vor Sonnenaufgang sprang Tamaskana von ihrem Lager und kratzte sich ausgiebig. Sie hatte erst letzte Woche ihre Sachen ausgeräuchert, aber einer der Kerle vom Abend zuvor hatte ihr schon wieder Läuse eingeschleppt. Voller Ekel zerquetschte sie einen der Blutsauger zwischen den Fingern. Die anderen Mädchen im »Blumengarten der Freude« hatten den Kampf gegen die Läuse und den Dreck aufgegeben, aber Tamaskana konnte sich nicht daran gewöhnen, genauso wenig wie an die Männer, die gierig ihren Körper begrapschten.
    Sie hatte keine Wahl. Seit die Stiefmutter ihre Mutter aus dem Haus geworfen hatte, weil sie zu alt und krank war, kam Tamaskana für ihren Unterhalt und den der Mutter allein auf. Duwaka, ihre dreizehnjährige Schwester, arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einer Teppichmanufaktur, doch ihr Lohn war so dürftig, dass er kaum für ihr eigenes Essen reichte.
    Tamaskana schlüpfte in das sauberere ihrer beiden Kleider und verließ lautlos das Haus. In ihrem Viertel begegnete ihr keine Seele, aber als sie auf die Hauptstraße trat, entdeckte sie bereits von weitem einen Menschenauflauf vor dem Hauptkloster Khotans. Neugierig gesellte sie sich hinzu. Die Zuschauer waren so ruhig, dass Tamaskana den monotonen Gesang der Mönche im Inneren des Klosters hören konnte. Sie stupste ihre Nachbarin in die Seite.
    »Was geht hier vor?«, fragte sie.
    Die Frau schrak aus ihrem andächtigen Lauschen auf. »Wo lebst du, dass du das nicht weißt? Xuan Zang ist vorgestern in Khotan angekommen, und nach der Morgenmeditation wird der König ihn besuchen.«
    »Xuan Zang? Nie gehört. Wer ist das?«
    »Ein Mönch aus Chang’an. Er ist nach Indien gepilgert, um die Worte des Buddhas zu studieren.«
    Ein Raunen ging durch die Menge. Die Mönche hatten aufgehört zu singen und schritten jetzt in einer feierlichen Prozession aus dem Klostertor, um dem König entgegenzugehen. Die Gläubigen verneigten sich, nur Tamaskana blieb stehen. Als kleines Mädchen hatte sie mit ihrer Mutter regelmäßig die Schreine besucht, aber inzwischen hatte sie das Vertrauen in Buddha und die Mönche verloren. Sie halfen ja doch nicht.
    Über die gebeugten Nacken der Menschen hinweg konnte sie ungehindert die kahlgeschorenen Männer in ihren einfachen braunen Gewändern betrachten. Vorneweg ging ein etwa vierzigjähriger Mönch mit chinesischen Gesichtszügen. Der Mann war groß und hielt sich sehr aufrecht, aber sein Gesicht war mit einem Netz von Falten überzogen, die nur davon herrühren konnten, dass es viele Jahre der Sonne ausgesetzt gewesen war. Sein federnder, kräftiger Gang unterschied sich von dem der behäbigen Mönche, die kaum mit ihm Schritt halten konnten. Tamaskana hatte keinen Zweifel: Dies war der weitgereiste Mann.
    Sie beneidete ihn. Er konnte gehen, wohin er wollte, hatte fremde Länder gesehen und exotische Speisen gegessen. Wäre sie doch nur als Mann geboren worden, sie hätte Khotan längst den Rücken gekehrt! Plötzlich traf sie der Blick des chinesischen Mönchs. Er sah direkt in sie hinein, und sie hatte den Eindruck, als würde er ihre Gedanken lesen. Ein Lächeln erhellte sein ernstes Gesicht, und er nickte ihr zu, bevor er wieder die Straße hinaufblickte, auf der inzwischen der König mit seinem Gefolge erschienen war. Der König ging zu Fuß, um seine Demut vor dem Buddha und den heiligen Männern zu demonstrieren. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages trafen ihn und verliehen ihm trotz seiner einfachen grauen

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