Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
das wohlverdiente Wochenende eines Kriminalkommissars.
Auf dem Weg zum Ausgang hatte er eine Idee. Er wandte sich um und steuerte auf den Portier zu. Vorsichtig ging er vor ihm in die Hocke und band die Schnürsenkel des Mannes zusammen. Dann verließ er leise das Hotel.
* * *
Marion testete die Dusche. Zu ihrer Freude kam heißes Wasser heraus. Der Sonntag fing gut an, und Marion fühlte sich ausgeruht und unternehmungslustig. Seit dem Einbruch waren zwei Nächte und ein Tag vergangen, und sie hatte sich wieder einigermaßen beruhigt. Neben dem Waschbecken lag eine Duschhaube mit dem Aufdruck des Hotels. Marion schnitt eine Grimasse, als sie den Sitz der Plastikhaube im Spiegel kontrollierte. Mit dem Ding auf dem Kopf sah sie lächerlich aus, aber die Platzwunde auf ihrer Stirn durfte nicht nass werden.
Während sie ungebührlich lange unter der Dusche stand und die Warmwasservorräte der anderen Gäste verbrauchte, dachte sie über den vergangenen Tag nach. Der Kommissar war kurz angebunden, beinahe unfreundlich gewesen, was sie auf die in seinem Büro herrschende Hektik schob. Wegen der ständigen Störungen hatte die Befragung über zwei Stunden gedauert, und auch Marion war gereizt, als sie endlich gehen durfte. Li Yandao befahl ihr, bis auf Widerruf in der Stadt zu bleiben, er wollte sich in den kommenden Tagen melden. Damit war sie entlassen.
Sie war ärgerlich zurück ins Hotel gestapft und hatte sich mit einem Buch und einer Packung Kekse im Bett eingeigelt. Immerhin war ihr Zimmer in der Zwischenzeit wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt worden.
Das Wasser wurde kalt, und Marion stieg aus der Duschkabine. Es wurde Zeit, dass sie sich fertig machte, um Kashgars berühmten Sonntagsmarkt zu besuchen. In der Eingangshalle kam ihr der Nachtportier entgegen, der gerade seine Schicht beendete. Auf seiner Stirn klebte ein großes Pflaster. Marion lächelte ihm verschwörerisch zu und tippte gegen ihr eigenes Pflaster, aber er ging nicht darauf ein und eilte mit verbissener Miene nach draußen.
Wie im Rausch drängelte sich Marion durch eine dichte Menge von Menschen- und Tierleibern. Der weit außerhalb der Stadt liegende Viehmarkt Kashgars übertraf all ihre Erwartungen, und sie bedauerte, dass Thomas ihre gemeinsame Kamera behalten hatte. Wohin sie sich auf dem von einer hohen Mauer umgebenen großen Feld auch wandte, sah sie fantastische Fotomotive: die wettergegerbten Gesichter der alten Männer mit ihren langen, ehrwürdigen Bärten; die hitzigen Debatten der Jüngeren, die sich um den Preis des Viehs stritten; die mit den Köpfen aneinandergefesselten Schafe; die qualmenden Grills, auf denen Hammelkebabs brutzelten. Marion beobachtete fasziniert, wie ein schwitzender Mann Nudeln formte. Er nahm einen Klumpen Teig und zog ihn auf Armeslänge auseinander, anschließend faltete er den Strang in der Mitte und zog die Arme erneut auseinander. Diesen Vorgang wiederholte er so lange, bis die Nudeln dünn wie Spaghetti waren. Dann riss er die Enden ab und warf die Nudeln in einen großen Topf mit kochendem Wasser. Diese Art der Nudelherstellung musste schon Marco Polo bestaunt haben.
Der Mann wischte sich den Mehlstaub von den Händen und blickte auf. Als er Marion entdeckte, wies er mit einer einladenden Geste auf den freien Platz auf einer Bank. Marion ließ sich nicht zweimal bitten und quetschte sich neben einen jungen Mann. Unwillkürlich rückte er etwas fort, um sie nicht zu berühren. Marion war sich nicht sicher, ob es eine Geste der Höflichkeit war. Sie hatte eher das Gefühl, in der Männerrunde am Tisch nicht willkommen zu sein, doch bevor sie wieder aufstehen konnte, stellte der Standbesitzer einen Teller vor sie hin. Marion nahm die Essstäbchen, ignorierte die neugierigen Blicke und konzentrierte sich auf ihre Nudeln. Sie waren fantastisch – genau von der richtigen Konsistenz und die Soße würzig und heiß. Ein paar fettige Hammelstücke zierten den Nudelberg; in diesem Teil der Welt war eine Mahlzeit ohne Hammelfleisch kaum denkbar. Marion aß Hammel normalerweise nicht so gern, aber als sie das erste Stück in den Mund steckte, hatte sie plötzlich das Gefühl, den Geschmack des ganzen herben Landes zu erfassen, die Wildheit seiner Berge, die Kargheit der Wüste, ja selbst den hohen, kalten Himmel und die Zähigkeit all derer, die ihr hartes Leben in dieser abweisenden Umwelt verbrachten. Dabei war das Fleisch alles andere als zäh, Marion musste vielmehr zugeben, dass es
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