Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Richtung zurück. Es hatte den Lastwagen bald eingeholt und hielt sich mit einigem Abstand hinter ihm. Marion wurde plötzlich misstrauisch.
Warum war der Fahrer des Autos nicht weitergefahren? Warum hatte er gedreht? Hatte es etwas mit ihr zu tun? Marion versuchte, die Gesichter hinter der Windschutzscheibe zu erkennen, aber die Entfernung war zu groß. Trotzdem hatte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück und stolperte prompt über ein Schaf. Sofort erfüllte panisches Blöken die Luft. Als Marion sich wieder hochgerappelt hatte und vorsichtig über die Ladeluke spähte, war das Auto verschwunden. Na, dachte sie und klopfte sich den Dreck von der Hose, wahrscheinlich waren die Wageninsassen einfach nur neugierig. Eine Touristin auf einem Schafstransporter bekam man schließlich nicht alle Tage zu sehen. Bald hatte sie den Wagen vergessen.
Eine gute halbe Stunde später setzte der Lastwagenfahrer Marion in der Nähe der Altstadt ab. Während sie ihm noch nachsah, erinnerte sie sich an ein Teehaus, das ihr beim letzten Spaziergang aufgefallen war. Der Fahrtwind hatte sie ziemlich ausgekühlt, und ein heißer Tee würde ihr guttun. Kurz entschlossen bog sie in die Tischlergasse ein. Ein paar Minuten später lehnte sie das Fahrrad gegen einen verlassenen Obstkarren und blickte an der verzierten Fassade des altehrwürdigen Teehauses empor. Im ersten Stock lud ein mit Teppichen und Kissen ausgelegter Balkon die Passanten zum Einkehren ein. Und es gab tatsächlich noch einen freien Platz.
Der Weg durch die Gasträume wurde zum Spießrutenlauf. Soweit Marion es überblicken konnte, waren die Tische ausschließlich von Uighuren mittleren Alters besetzt, die sie mit unverhohlener Abneigung betrachteten. Keine Frauen, keine Chinesen, keine Touristen.
Plötzlich spürte Marion Ärger in sich aufsteigen. Das Leben der Uighuren und der Chinesen hatte so wenig Berührungspunkte, es gab so wenig Bemühungen um Verständnis für die jeweils andere Kultur, dass die beiden Bevölkerungsgruppen auch auf verschiedenen Planeten hätten leben können. Es war diese Ignoranz, die Marion ärgerte. Sie hatte sich schon immer gefragt, warum die Leute sich nicht mehr füreinander interessieren konnten – und das galt nicht nur für China, sondern auch für Amerika, Afrika oder Buxtehude. Ein bisschen mehr Verständnis und Toleranz würden die Welt zu einem besseren Ort machen, aber sie wusste, dass es naives Wunschdenken war: Die Menschen würden sich auch in tausend Jahren noch misstrauisch umschleichen, sobald jemand auftauchte, der nicht zu ihrem Stamm gehörte.
Sie erreichte die Treppe zum ersten Stock. Vielleicht tue ich den Chinesen und Uighuren unrecht, dachte sie, während sie die Treppe hinaufstieg. Sie wusste zu wenig über die Probleme Xinjiangs und die politischen Verwicklungen, um sich wirklich ein Urteil erlauben zu dürfen. Es waren ohnehin mehr die einzelnen Menschen, die sie interessierten, und da gab es, wie überall, eine Standardmischung von schlauen und dummen, harmlosen und gefährlichen, schönen und hässlichen, freundlichen und Idioten. Wobei die freundlichen glücklicherweise immer überwogen.
Marion war froh, als sie den Balkon erreicht hatte, und ließ sich auf einem dicken Bodenkissen vor einem niedrigen Tisch nieder. Sofort erschien ein Kellner, bei dem sie ihren Tee bestellte. Mit undurchdringlicher Miene verschwand er in den dämmrigen Tiefen des Hauses und kehrte kurz darauf mit dem Getränk zurück.
Von dem Balkon aus hatte sie einen guten Blick auf die den Obsthändlern und Bäckern vorbehaltene Gasse. Die Stände waren von verschleierten Frauen umlagert, die für das Abendessen der Familie einkauften. Ein beruhigendes Gemurmel drang zu Marions Logenplatz herauf. Für einen kurzen Moment fanden die Strahlen der Abendsonne eine kleine Lücke zwischen den Wolken und tauchten das Teehaus in warmes, gelbes Licht. Zufrieden umfasste Marion mit ihren klammen Fingern die Tasse und blies auf den dampfenden Tee. In diesem Moment bemerkte sie ihn.
Die Sonne hatte seinen orangefarbenen Schal aufleuchten lassen. Er verharrte neben einem Stand auf der anderen Straßenseite und sah zu dem Balkon hinauf. Marion hatte den Eindruck, dass er etwas suchte. Oder jemanden. Dann stieß er seinen Begleiter an, der gerade mit dem Standbesitzer handelseinig geworden war.
Die beiden Männer gingen schnell davon, und Marion hatte keine Gelegenheit mehr, ihre Gesichter
Weitere Kostenlose Bücher