Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
haben wir auch den Mörder.«
»Ein Streit unter Gaunern?«
»Das ist denkbar. Es kann auch ein Eifersuchtsdrama gewesen sein, aber ich glaube es nicht. Unser Pathologe hat aufschlussreiche Details entdeckt.«
Marion rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. »Was denn?«
»Der Mann ist nach einem Stich in die Leber innerlich verblutet.«
»Stammte das Messer aus Yengisar?«
»Nein, die Qualität der Yengisar-Klingen ist nicht sonderlich gut. Die Tatwaffe war sehr scharf.«
»Und wann ist der Mann gestorben?«
»In der Nacht, bevor Sie über ihn gestolpert sind. Die Uhrzeit lässt sich nicht mehr präzise feststellen, weil der Pathologe die Leiche zu spät untersucht hat. Eine Sache ist allerdings merkwürdig …« Li Yandao machte eine Pause. »Jemand hat ihm die Finger aufgebogen und dabei den Ringfinger der rechten Hand gebrochen – und zwar lange nach seinem Tod, als die Totenstarre bereits eingesetzt hatte. Warum wohl? Hielt er etwas Wertvolles umklammert?« Es war ein Schuss ins Blaue. Li Yandao beobachtete Marion mit betont gleichgültiger Miene.
»Dann war schon vor mir jemand dort!«, rief Marion und runzelte die Stirn. »Es muss der Mörder gewesen sein, denn jeder andere hätte doch Alarm geschlagen. Mein Gott, stellen Sie sich vor, ich wäre auf den Mörder gefallen.«
Li Yandao war enttäuscht und gleichzeitig erleichtert. Ma Li Huos Bestürzung wirkte echt. Sie log also doch nicht? Oder wünschte er sich nur, dass sie ihm die Wahrheit sagte?
Er hatte nicht viele Anhaltspunkte, aber sie reichten immerhin aus, um Zweifel an ihrer Ehrlichkeit zu haben. Außerdem hatte die Aussage des Gastes aus dem Zimmer neben Ma Li Huos Fragen aufgeworfen. Der uighurische Geschäftsmann nahm an, dass sich zwei Männer in Ma Li Huos Zimmer aufhielten, und hatte einige Gesprächsfetzen verstanden. Einer der beiden Männer sprach Uighurisch mit einem chinesischen Akzent. Der Chinese war sehr ungehalten gewesen und hatte seinem Partner Vorwürfe gemacht. Dabei waren mehrfach die Wörter »Kästchen« und »Pferd« gefallen. Es wäre das Einfachste, Ma Li Huo auf den Kopf zuzusagen, dass er den Verdacht hatte, sie habe dieses Kästchen in ihren Besitz gebracht. Aber Li Yandao hoffte immer noch, dass sie es ihm freiwillig gab. Wenn sie es hatte.
Li Yandao war verunsichert. Er war auf dem besten Wege, sich in Ma Li Huo zu verlieben, und seine Gefühle vernebelten sein Urteilsvermögen. Er behandelte sie wie ein rohes Ei, und das durfte nicht sein. Einerseits. Andererseits gelang es ihm wunderbar, seine lasche und so gar nicht professionelle Vorgehensweise vor sich selbst damit zu rechtfertigen, dass Marion auch nichts zugeben würde, wenn sie mehr wüsste. Er redete sich ein, dass es das Beste war, sie weiterhin beschatten zu lassen, solange sie sich in seinem Einflussgebiet aufhielt. Wenn sich sein Verdacht erhärtete, konnte er sie später immer noch unter Druck setzen. Hoffentlich kam es nicht dazu, seine Vorgesetzten würden ihn sonst genüsslich einen Kopf kürzer machen.
»Haben Sie noch mehr herausgefunden?«, fragte Marion.
»Nein, sonst nichts. Es gibt kein Motiv und nur wenig Hinweise. Wenn uns nicht der Zufall zu Hilfe kommt, werden wir den Fall als ungelöst abschließen müssen. Aber ich bin zuversichtlich. In all meinen Jahren bei der Polizei hat sich der Zufall als sehr zuverlässig erwiesen. Manchmal wartet man einfach, bis der Gegenspieler einen Fehler macht«, sagte er, nicht ohne Hintergedanken. Marion blieb gelassen.
»Ich drücke Ihnen die Daumen. Schreiben Sie mir, wie es weitergeht? Ich gebe Ihnen meine E-Mail-Adresse.«
»Ich hatte mich schon gefragt, ob wir in Kontakt bleiben können. Ich wüsste gern, in welche Abenteuer Sie als Nächstes stolpern.«
»Bloß nicht! Von Abenteuern habe ich fürs Erste die Nase voll.«
Marion verzog das Gesicht zu einer übertrieben angewiderten Grimasse, die Li Yandao zum Lachen brachte. Die gute Stimmung war wiederhergestellt. Nein, sie verheimlichte nichts. »Ma Li Huo, Sie werden mir fehlen. Ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß wie heute Abend.«
»Dann lassen Sie uns noch ein Bier bestellen und lustig sein.«
Sie waren beide angetrunken, als sie drei Stunden später das Restaurant verließen. Ein kalter Nordwind fegte die leere Straße hinunter. Marion schob die Hände tief in die Hosentaschen und schlug mit unsicheren Schritten den Weg zu ihrem Hotel ein. Li Yandao lief hinter ihr her. Als er auf gleicher Höhe war, legte er seinen Arm um
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