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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Das Leben war ungerecht.
    * * *
    Da Marions verletzter Zeh keine längeren Wanderungen zuließ, lieh sie sich am nächsten Tag ein Fahrrad und fuhr kreuz und quer über die Straßen und Feldwege der riesigen Kashgar-Oase. Sie hatte sich Oasen immer als winzige Ansammlungen von Palmen um ein Wasserloch vorgestellt, aber Xinjiang belehrte sie eines Besseren: Das Umland von Kashgar ernährte knapp zweihunderttausend Menschen. Auf den Feldern wuchs Mais, Getreide und Baumwolle, und Xinjiang war in ganz China für seinen Überfluss an Früchten berühmt. Marion radelte durch endlose Pappelalleen, die das künstlich bewässerte Land in geometrische Parzellen teilten. Vor allem diese fragil wirkenden und doch robusten Bäume prägten das Bild der Oase. Wenn Xinjiang ein Wappen hätte, müsste im Zentrum unbedingt eine Pappel abgebildet sein, dachte Marion, während sie weiterstrampelte.
    Am frühen Nachmittag erreichte sie den nordwestlichen Rand der Oase. Die Grenze zwischen Grün und Grau, zwischen Leben und Tod, war wie mit dem Lineal gezogen, nur durchbrochen von dem grauen Asphaltband der Straße, das direkt in die abweisende Ödnis hineinführte. Die Landschaft vor Marion sah alles andere als einladend aus. Ein schwacher, kalter Wind wirbelte kleine Sandhosen auf und trieb sie in einiger Entfernung über die leblose Ebene. Auch das letzte bisschen Farbe, das die Wüste an einem schöneren Tag vielleicht etwas versöhnlicher hätte erscheinen lassen, wurde von einer tief über dem Land hängenden Wolkendecke aufgesogen.
    Trotzdem übte die Wüste eine starke Anziehungskraft auf Marion aus. Sie entschloss sich, wenigstens ein kurzes Stück weiterzufahren, und trank einen Schluck Wasser, bevor sie sich wieder auf ihr Fahrrad schwang. Als sie in die große Leere hineinrollte, spürte sie ein Ziehen im Bauch, ein Hochgefühl, das dem vor einem Sprung vom Zehn-Meter-Brett ähnelte. Seit sie als Siebenjährige eine Wette gegen ihren Bruder verloren hatte und das erste Mal von dem himmelhohen Brett springen musste, war sie geradezu süchtig danach geworden. Manchmal fragte sich Marion, ob sie mit diesem Sprung die Weichen für ihr ganzes Leben gestellt hatte. Ihr Bruder war nicht gesprungen und hatte auch später jedes Risiko vermieden.
    Sie war vielleicht einen Kilometer gefahren, als ihre Euphorie einen Dämpfer erhielt: Das Hinterrad hatte einen Platten. Fluchend stieg Marion ab und untersuchte den Schaden. Einer der überall auf der Straße herumliegenden scharfkantigen Steine hatte Mantel und Schlauch aufgeschlitzt, und an eine Reparatur war nicht zu denken. Während Marion noch mit ihrem Pech haderte, drangen leise Motorengeräusche an ihr Ohr. Sie blickte auf und traute ihren Augen nicht: Auf der bisher menschenleeren Straße hatte die Rushhour eingesetzt. Von der Oasenseite näherte sich ein Kleinwagen, während ein in eine Staubwolke gehüllter Lastwagen aus der Wüste herandonnerte. Marion sprang auf und stellte sich winkend auf die Straße. Der Lastwagen erreichte sie zuerst und hielt tatsächlich an. Erleichtert lief Marion zum Fahrerhäuschen. Inzwischen war auch der Kleinwagen auf ihrer Höhe und drosselte das Tempo. Marion konnte undeutlich zwei Personen hinter der staubigen Scheibe erkennen und machte ihnen ein Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Das hellblaue Auto fuhr noch ein paar Meter langsam weiter und beschleunigte dann.
    Marion wandte sich dem Lastwagenfahrer zu, der sich inzwischen aus dem Fenster gelehnt hatte. Nachdem sie eine kleine Pantomime aufgeführt und ihm das kaputte Fahrrad gezeigt hatte, glitt ein verstehendes Lächeln über sein Gesicht.
    Er sprang aus dem Führerhaus und zeigte bedauernd auf die vollbesetzte Kabine, aus der Marion von vier oder fünf Augenpaaren interessiert gemustert wurde. Dann ging er zur Rückseite des Lastwagens. Nachdem er die Ladeklappe geöffnet hatte, half er Marion auf die Pritsche. Drei Dutzend verschreckte Schafe glotzten sie blöde an. »Guten Tag«, begrüßte Marion die Schafe und beugte sich zu dem hilfsbereiten Fahrer herunter, der ihr das Fahrrad entgegenhielt. Eine Minute später rumpelten sie bereits der Oase entgegen.
    Da der Boden von den Schafen völlig verdreckt war, blieb Marion an der Ladeklappe stehen und genoss von ihrer erhöhten Position aus einen letzten Blick in die Wüste, die jetzt wieder völlig verlassen dalag. Dann stutzte sie. Die Wüste war nicht leer: In einiger Entfernung wendete gerade das hellblaue Auto und fuhr wieder in ihre

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