Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
feierten.
»Erzählen Sie mir jetzt etwas über sich?«, fragte Li Yandao unvermittelt.
Marion blieb stehen und sah ihm direkt ins Gesicht. Er senkte seinen Blick. »Entschuldigung. Ich bin zu neugierig«, murmelte er.
»Das kenne ich«, meinte Marion. »Also gut, kommen Sie. Wir setzen uns dorthin.« Sie wies auf einen großen Stapel Lehmziegel. Eines fernen Tages sollte er wahrscheinlich dafür benutzt werden, die schadhafte Mauer auszubessern.
»Ich bin in einem Vorort von Hamburg aufgewachsen«, begann sie. »Reihenhaus mit Garten, liebe Eltern, die nur mein Bestes wollten und ihrer Meinung nach kläglich gescheitert sind, ein großer Bruder, der …«
»Warum gescheitert?«, unterbrach Li Yandao. »Sie sind doch …« Er suchte nach Worten.
»Ein schwer in die Gesellschaft zu integrierendes Problemkind«, soufflierte Marion trocken, »jedenfalls waren meine Lehrer der Auffassung. Intelligent, aber faul, mit Interesse an allem, nur nicht an dem, was sie mir in der Schule beibringen wollten. Immerhin, ich habe Abitur gemacht und Kunstgeschichte studiert.« Marion lachte. »Zumindest ein paar Semester. Zum Entsetzen meiner Eltern brach ich kurz vor dem Vordiplom das Studium ab und ging nach Berlin. Dort hielt ich mich jahrelang mit Jobs über Wasser, die alle mit dem Wort ›Aushilfs‹ begannen: Aushilfskellnerin, Aushilfsgärtnerin, Aushilfssekretärin, Aushilfsdies, Aushilfsdas.«
»Aushilfsklempnerin?«
»Nein, das nicht. Aber eine Tischlerei war dabei. Es war eine gute Zeit. Jedes Mal, wenn ich genug Geld zusammengespart hatte, kündigte ich und fuhr für ein oder zwei, manchmal sogar drei Monate irgendwohin: Griechenland, Italien, Nordafrika. Nachdem ich das erste Mal in Asien war, hat es mich nicht mehr losgelassen. Ich glaube, ich hatte Ihnen erzählt, dass ich früher schon durch China gereist bin.«
Der Kommissar nickte. Er hatte sich ihr zugewandt und hörte ernst und konzentriert zu. Sein Blick ließ ihre Augen nicht los, und Marion verlor den Faden. Sie saßen sehr dicht beieinander, und Marion konnte die Spannung, die sich unmerklich zwischen ihnen aufgebaut hatte, förmlich in ihren Ohren summen hören.
Sie räusperte sich, um ihre Verwirrung zu kaschieren. »Vor sieben Jahren lernte ich dann …« Marion brach ab. Aus der unbestimmten Angst heraus, etwas zu zerstören – etwas, das vielleicht gar nicht vorhanden war –, widerstrebte es ihr, dem Mann neben ihr von Thomas zu erzählen. »Vor sieben Jahren bin ich zurück nach Hamburg gezogen, und da wohne ich immer noch«, sagte sie schnell und sprang von dem Steinstapel. »Das war es im Großen und Ganzen. Zufrieden?«
Der Kommissar schien aus einer Trance zu erwachen. »Zufrieden? Äh, ja. Danke.« Er stieg ebenfalls von dem Stapel. Etwas verlegen setzten sie ihren Weg fort.
»Und Sie?«, fragte Marion schließlich.
»Ich?«
»Wer sonst? Was haben Sie in Ihrem Leben gemacht?«
»Einen Fehler nach dem anderen«, sagte er so leise, dass Marion ihn kaum verstehen konnte. Sie erschrak, als er unvermutet gegen einen kleinen Stein trat, der mit einem lauten Klacken von der Rückwand des Mausoleums abprallte. »Ich bin Polizist«, sagte er bitter. »Sagt das nicht alles?« Er beschleunigte seine Schritte, als wollte er vor Marion weglaufen.
»Wenn Sie mir nichts erzählen wollen, ist das kein Problem.«
Er blieb stehen. »Danke«, sagte er nur. Marion hatte den Eindruck, als würde er zusammensinken. Er strahlte eine Hilflosigkeit aus, die sie bisher noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und war froh, als sie hinter ihm ein Loch in der Mauer entdeckte. »Kommen Sie, das möchte ich mir ansehen«, sagte sie, nachdem sie durch das Loch auf den dahinterliegenden islamischen Friedhof gespäht hatte. Bevor Li Yandao sie davon abhalten konnte, kletterte sie durch die kleine Öffnung. Er kroch ihr hinterher und klopfte sich den Staub von der Jacke.
»Sie sind wie eine Katze. Und Neugierde bringt die Katze um.«
»Weshalb die Katze auch neun Leben hat. Ich habe bisher höchstens drei oder vier verbraucht. Aber was ist das?« Marion verstummte.
Li Yandao hörte es ebenfalls. Zwischen den schmucklosen Gräberreihen stieg eine brüchige Männerstimme auf. Sie konnten den Mann nicht sehen, der mit Inbrunst vor einem Grab Koranverse rezitierte, seinen Schmerz dem kaltblauen, wolkenlosen Himmel entgegensang. Marion bekam eine Gänsehaut. Der Mann legte die Trauer der ganzen Welt in seinen Gesang, und ihr
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