Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
genauer zu betrachten. Der zweite Mann wirkte klein neben dem Hünen mit den welligen Haaren. Dem Mann vom Viehmarkt.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Was hatte dieses Zusammentreffen zu bedeuten? Hatte sie womöglich gerade den Mörder gesehen? Wurde sie immer noch verfolgt? Nur langsam verflog ihre Panik. Je länger sie über den Mann nachdachte, desto normaler und unbedeutender erschien ihr die Episode. Ein Mann kauft Obst. Sein Freund vertreibt sich die Wartezeit, indem er seine Umgebung betrachtet. Dabei entdeckt er eine Touristin, die auf dem Balkon eines nur von Einheimischen frequentierten Teehauses wie auf dem Präsentierteller sitzt. Marion wurde bewusst, dass sie mindestens ebenso auffällig war wie sein Schal. Ein Mann, der derart aus der Menge herausragte wie dieser Riese, würde sie niemals verfolgen. Wahrscheinlich war es gar nicht der Mann vom Viehmarkt. Wie zur Bestätigung trat gerade ein neuer Gast auf den Eingang des Teehauses zu. Ein kleiner alter Mann, um dessen Hals ein orangefarbener Schal gewickelt war. Es gab in Kashgar also nicht nur ein Exemplar davon. Trotzdem blieb ein letzter Zweifel hängen. Die Ruhe, in der sie sich in den letzten Tagen gewiegt hatte, war trügerisch gewesen. Sie hielt besser die Augen auf.
Vor dem Schlafengehen verbarrikadierte Marion ihre Zimmertür noch gründlicher als zuvor. Sie stapelte alles Bewegliche davor, bis nur noch ein schmaler Gang blieb, durch den sie ins Bad gehen konnte. Dann legte sie sich vollständig bekleidet ins Bett, selbst die Schuhe behielt sie an. Ihr Messer und die Taschenlampe legte sie griffbereit auf den Nachttisch. Sollte erneut jemand versuchen, bei ihr einzubrechen, war sie vorbereitet. Sie hatte zwar keine Vorstellung, was sie dann tun würde, aber ihre Vorsichtsmaßnahmen beruhigten sie zumindest.
Den nächsten Tag verbrachte sie lesend im Café. Dort waren immer Menschen, und niemand würde es wagen, sie zu behelligen. Sie wartete ungeduldig auf den Abend, ihren letzten in Kashgar. Es machte sie traurig, dass sie von Li Yandao Abschied nehmen musste, aber es war besser so. Sie konnte keine weiteren Komplikationen in ihrem Leben brauchen.
* * *
Li Yandao traf mit einer Viertelstunde Verspätung ein, und er kam zu Fuß.
»Getriebeschaden. Und dabei bin ich immer davon ausgegangen, dass ein deutsches Auto nie kaputtgeht. Jetzt bin ich gespannt, was man mir als Nächstes zur Verfügung stellen wird.«
»Esel sollen recht zuverlässig sein.«
»Ich sehe mich schon auf einem Dienstesel durch Kashgar reiten. Immerhin hätten die Leute dann etwas zu lachen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Wie geht es Ihnen? Sie sehen aus, als hätten Sie nicht viel geschlafen.«
»Mir geht es bestens. Ich bin gestern den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Die Dörfer und Felder außerhalb der Stadt sind wirklich sehr malerisch.«
»Gutes Gelände für Ihre Schafzucht.«
»Ich bekomme langsam eine Allergie gegen Schafe.«
»Das war ein Witz. Sie können morgen abreisen.«
»Mir ist nicht nach Witzen zumute«, sagte sie.
»Was Sie brauchen, ist ein gutes Essen. Sie haben die freie Auswahl: uighurisch, chinesisch, Burger …«
»Schwein. Wegen der Schafsallergie.«
»Dann ein chinesisches Restaurant.«
Li Yandao führte Marion in eines der Restaurants in der Nähe des neuen Einkaufszentrums. Es unterschied sich nicht wesentlich von den anderen chinesischen Restaurants der Stadt: die gleichen weißen Kacheln an den Wänden, die gleichen Plastikstühle und fleckigen Tischdecken, die gleiche abgegriffene Speisekarte.
Sobald sie saßen, verwickelte Li Yandao die Kellnerin in eine ernsthafte Diskussion über die Zusammenstellung des Menüs. Marion beobachtete die beiden amüsiert. In Asien aß man nicht, um satt zu werden, es ging um mehr. Europäer essen, um zu leben. Asiaten leben, um zu essen.
Li Yandao gab eine umfangreiche Bestellung auf.
»Was gibt es?«, fragte Marion.
»Huiguo Rou, hongshao yu, mapo dofu, jidan tang …«
»Das ist viel zu viel.«
»Ich bin doch noch gar nicht fertig«, sagte er beleidigt. Sobald es ums Essen ging, verstanden Chinesen keinen Spaß. »Wollen Sie keinen Nachtisch?«
Das Essen kam in Rekordzeit. Der Duft von herbem Blumenpfeffer aus Sichuan, Knoblauch und süßlichem Anis stieg Marion in die Nase. Sie musste niesen. Scharf angebratener Chili war offensichtlich auch dabei.
»Lassen Sie es sich schmecken. Mögen Sie scharfes Essen?« Li Yandao deutete auf eine Platte mit Huhn,
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