Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Herz zog sich zusammen. Li Yandao räusperte sich. Als sich Marion zu ihm umdrehte, sah sie, dass er Tränen in den Augen hatte. Was ging ihm durch den Kopf? Warum wollte er ihr nichts über sein Leben erzählen? Wie jeder Mensch hatte auch der Polizeikommissar Narben auf der Seele, die immer wieder aufbrechen konnten.
Sie blieben regungslos stehen, bis der Mann seine Klage beendet hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, kletterten sie dann durch das Loch zurück und gingen zum Auto.
Li Yandao brach das Schweigen erst, als sie vor dem Seman-Hotel vorfuhren.
»Ma Li Huo, ich … Es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Ausflug verdorben habe.« Die Traurigkeit war nicht aus seinen Augen gewichen.
»Sie haben nichts verdorben. Wir sehen uns übermorgen.«
»Gut, bis Freitag dann. Ich hole Sie um sechs Uhr ab.«
Ein Kaleidoskop von Bildern wirbelte durch Marions Kopf: der Tote, ihr durchsuchtes Zimmer, Thomas, Straßenszenen aus Kashgar, die Jurte in den Bergen und Kommissar Li, der auf dem Friedhof so verletzlich gewirkt hatte, dass sie ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Und das geheimnisvolle Jadepferd, immer und immer wieder, es wurde größer und größer, begann sich zu drehen, bis Marion nur noch einen Strudel aus Grün und Gold sah, der sich um ein unbewegliches Rubinauge drehte. Mit einem leisen Schrei setzte sie sich auf. Sie war schweißgebadet, und auf ihrem Brustkorb lastete ein Gewicht, das ihr die Luft nahm. Nur langsam fand sie in die Realität zurück, und ihr Atem beruhigte sich. Marion tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Wecker. Ein Gegenstand fiel klirrend zu Boden. Sie fand den Wecker. Halb drei, mitten in der Nacht. Seit Stunden drehte sie sich von einer Seite auf die andere, ohne wirklich in den Schlaf zu kommen. Sie schwang die Beine über die Bettkante, um ins Bad zu gehen. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren rechten Fuß. Sie schrie leise auf und machte das Licht an. Der Boden vor ihrem Bett war mit Glasscherben übersät, und von ihrem Fuß tropfte Blut. Auf der Suche nach dem Wecker hatte sie die scheußliche Vase vom Nachttisch gestoßen.
Wütend über ihre eigene Ungeschicklichkeit humpelte Marion ins Bad und suchte Pflaster und ein desinfizierendes Spray, um den tiefen Schnitt unter dem großen Zeh zu versorgen. Sie war inzwischen hellwach und beschloss, Ordnung in ihrem Kopf zu schaffen. Vorher konnte sie sowieso nicht schlafen.
Am Samstag würde sie die Stadt verlassen können. Kashgar hatte ihr gut gefallen, aber die Ereignisse nach dem Sturz in die Baugrube hatten ihr zugesetzt. Der Einbruch und auch der Taschendiebstahl hatten sie zusätzlich verunsichert, dennoch wollte sie ihre Reise wie geplant zu Ende bringen. Allein schon deshalb, weil sie Thomas, der ihr niemals zugetraut hatte, sich ohne ihn zurechtzufinden, den Triumph nicht gönnte.
Thomas. Was er wohl gerade machte? Es war besser, nicht darüber nachzudenken. Was sollte ein gutaussehender, frischgebackener Single an einem thailändischen Traumstrand schon machen? Marion schluckte. Und was machte sie? Sammelte Platz- und Schnittwunden, verging vor Einsamkeit und fragte sich, wie sie auf die Idee gekommen war, sich selbst in die Wüste zu schicken. Zitternd zog sie die Bettdecke enger um sich. Die Heizung in ihrem Zimmer funktionierte selbstverständlich nicht.
Kommissar Li schlich sich abermals in ihren Kopf. Der Mann beschäftigte sie mehr, als ihr lieb war, und sie gestand sich ein, dass sie ihn mochte. Sein unerwarteter Gefühlsausbruch auf dem Friedhof hatte sie berührt. Himmel, sie würde sich doch nicht in einen chinesischen Polizisten verlieben? Hatte sie nicht schon genug Scherereien? Chinesen hatten zu blasse Haut, viel zu dünne Beine und keine Haare auf der Brust – also Finger weg. Marion löschte das Licht und ließ sich zurücksinken. Aber schöne Augen hatte er dennoch.
Turdi kauerte hinter einem dichtbelaubten Busch und starrte zu dem erleuchteten Zimmerfenster der Deutschen hinauf. Für einen kurzen Moment konnte er sie hinter dem geschlossenen Vorhang schemenhaft erkennen. Eine Weile lang geschah überhaupt nichts, dann erlosch das Licht wieder. Missmutig rieb er seine Hände aneinander. Wahrscheinlich war sie im Bad gewesen. Diese Nachtwachen waren völlig sinnlos.
Turdi unterdrückte ein Niesen. Er hatte eiskalte Füße, sein Hals kratzte, und er langweilte sich. Während sein Boss im warmen Bett lag, schlug er sich nun schon die sechste Nacht in diesem verfluchten Hof um die Ohren.
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