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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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kleiner Junge stürmte auf Batügül zu. Sie nahm ihn hoch, gab ihm einen Kuss auf die Nase und zeigte auf Marion. Der Junge sah Marion mit großen Augen an. Dann strampelte er sich frei und lief davon.
    »Du hast einen Sohn?«, fragte Marion verblüfft.
    »Zwei.« Mit dieser Feststellung ging Batügül durch das Tor. Marion folgte ihr in einen kurzen, tunnelähnlichen Durchgang, von dem zwei Öffnungen zu einem Schafstall führten. Hinter dem Durchgang öffnete sich ein behaglicher, von Weinlaub überrankter Innenhof, der an drei Seiten von einem flachen, hufeisenförmigen Wohnhaus begrenzt war. In der Abendsonne glühten die Blätter des Weins in kräftigem Rot und Gold, dazwischen hingen die letzten Trauben des Herbstes. Vor den Zimmern verlief eine tiefe, gemauerte Veranda um das Haus herum, auf der mehrere Schichten dicker Wollteppiche und Kissen zum Sitzen einluden. Batügüls Sohn hatte sich hinter einer bunten Kinderwiege versteckt. Aus einem der Räume erklang leiser Gesang; die Töne des melancholischen Liedes schwebten leicht wie Schneeflocken über den Hof, tanzten um die geschnitzten Holzbalken des Verandadachs und verloren sich zwischen dem Weinlaub. Dem Lied folgte der Duft von frischem Brot und Gewürzen, und erst jetzt bemerkte Marion, dass nur wenige Schritte vor ihr eine ältere Frau saß und Nudeltaschen formte.
    Marion verbeugte sich verlegen. Die Frau, der Ähnlichkeit nach zu urteilen Batügüls Mutter, richtete sich beschwerlich auf und streckte ihr beide Hände entgegen. Sie musterte die Besucherin eingehend, dann zog sie Marion auf die Veranda und drängte sie, sich auf die weichen Teppiche zu setzen. Batügül hatte inzwischen das Baby aus der Wiege genommen und ließ sich neben Marion nieder.
    Marion kitzelte das Baby am Bauch. »Ist der süß! Wie heißt er?«
    »Wir haben ihn Ahmet genannt. Er ist dreizehn Monate alt.«
    »Und dein älterer Sohn?«
    »Negat wird im November fünf.«
    »Fünf! Entschuldige die Frage, Batügül, aber wie alt bist du? Du hast zwei Kinder, ein Medizinstudium …«
    »Ich bin einunddreißig.«
    »Ich hatte dich auf Mitte zwanzig geschätzt.«
    »Danke für das Kompliment.«
    Ein junges Mädchen brachte einen flachen Laib Brot, dann eilte sie in die Küche, um kurz darauf mit einer verzierten Metallkanne und einer dazu passenden Auffangschale zu Marion und Batügül zurückzukehren.
    »Halte die Hände über die Schale.«
    Das Mädchen goss Wasser über ihre Hände. Marion wollte schon die Tropfen abschütteln, als Batügül sie mit einem Ausruf daran hinderte. »Bitte nicht! Das ist sehr unhöflich, weil du andere treffen könntest«, fügte sie erklärend hinzu. »Nur Chinesen sind so unaufmerksam.«
    Marion hielt die Hände wieder über die Schale und bekam noch zwei weitere Güsse aus der Kanne, bevor das Mädchen ihr ein Handtuch reichte.
    Das Mädchen stellte sich in holprigem Englisch als Batügüls jüngste Schwester Sodia vor, dann zog es sich schüchtern zurück, um bei der Zubereitung des Abendessens zu helfen. Sie begann wieder zu singen, und ihre klare Stimme füllte den friedlichen Innenhof.
    Im Laufe des Abends erschienen nach und nach alle Mitglieder des Haushalts: Batügüls jüngerer Bruder Osman, ihr Vater, der mit einem Nachbarn an den Bewässerungsgräben gearbeitet hatte, und schließlich Koresh, Batügüls Ehemann. Marion mochte seine offene, herzliche Art sofort; Batügül und ihr Mann waren sich darin sehr ähnlich.
    Als Letzter kam Großvater Kumran herein. Der alte Mann ging leicht vornübergebeugt, war aber bemerkenswert agil. Auf dem kahlen Kopf trug er eine abgegriffene, bestickte Kappe, sein Körper steckte in einem weiten Staubmantel, und die schwarze Pluderhose hatte er in hohe schwarze Stiefel gestopft. Das Interessanteste an ihm war sein Bart. Marion hätte zu gern gewusst, ob sich in dem schlohweißen Prachtbart, der im rechten Winkel von seinem Kinn abstand, ein Stützgerüst verbarg.
    Beim gemeinsamen Abendessen entspann sich ein lebhaftes Gespräch. Batügül fungierte als Übersetzerin. Offensichtlich war es das erste Mal, dass die Familie einen Gast aus Europa in ihr Haus geladen hatte, denn sie fragten Marion nach Strich und Faden über ihr Leben aus. Immer wieder fielen die Uighuren in ihre Muttersprache zurück, und Marion konnte Luft holen. Sie war gespannt, zu welchem Thema sie als Nächstes Rede und Antwort stehen musste.
    Eins war allerdings seltsam: Während selbst der greise Großvater die Gelegenheit nutzte,

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