Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Gesichtshälfte ab und bewegte vorsichtig den Kiefer. Obwohl das Kinn angeschwollen war, tat es kaum weh, und alle Zähne waren an ihrem Platz. Sie war noch einmal heil davongekommen.
Viele Stunden später entdeckte Marion eine über die Schotterebene zerstreute Kamelherde. Die Kamele sahen mit ihrem dichten Fell und den prall gefüllten Höckern gesund aus. Warum die Tiere so gut genährt waren, blieb Marion ein Rätsel: Es gab weit und breit weder Sträucher noch Gras. Steine kamen als Futter wohl kaum in Frage, aber Steine waren das Einzige, das die Wüste am Südrand des Tarim-Beckens zu bieten hatte. Marion wusste, dass die Straße parallel zu dem gewaltigen Kunlun-Gebirge verlief, aber der feine Lössstaub in der Luft hatte die Berge verschluckt. Es gab nichts, was dem Auge einen Punkt zum Fokussieren geboten hätte – die Kamele hatte der Bus inzwischen weit hinter sich gelassen. Nur manchmal zweigten schmale Pisten im rechten Winkel von der asphaltierten Hauptstraße ab und verloren sich am Horizont. Einige führten nach Norden, direkt ins Herz der Wüste, andere nach Süden, in die Täler des Kunlun. Marion konnte sich nur schwer vorstellen, dass in dieser desolaten Einsamkeit Menschen lebten, aber es musste wohl so sein. Vor langer Zeit waren die Vorfahren dieser Menschen hierhergekommen, vielleicht, weil in ihren Heimatländern Hunger herrschte, vielleicht, weil sie vor einer heranrückenden Armee flüchteten. Vielleicht aber auch, weil sie von den Geschichten über den Reichtum der Oasenstädte angelockt worden waren? Den unendlichen Möglichkeiten, die der florierende Ost-West-Handel denen versprach, die zupackten und sich nicht fürchteten?
Marion blickte gedankenverloren auf eine weit entfernte, zitternde Linie, bis sie begriff, dass sie eine Fata Morgana sah. Sie richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. Die Täuschung war perfekt: Wälder und Wasser; Leben, wo keins war. Wie viele Menschen mochten diese Trugbilder auf dem Gewissen haben? Wie viele Karawanen waren hoffnungsvoll auf die vermeintlichen Oasen zugestrebt, ohne sie jemals zu erreichen? Marion konnte sich gut vorstellen, wie das Entsetzen und die Verzweiflung die Wanderer gepackt hatte, als sie ihren Irrtum erkannten, als sie feststellen mussten, dass die Wüste sie von ihrem Weg fortgelockt hatte. Marion fühlte sich plötzlich sehr klein und unbedeutend. Die Wüste hatte die Macht, den Menschen im Handumdrehen ihre Überheblichkeit auszutreiben und sie auf ihre Plätze zu verweisen.
Eine Stunde später entdeckte Marion erneut eine flirrende Linie am östlichen Horizont. Ihr Ziel, die Khotan-Oase, kündigte sich an. Und diesmal war es keine Fata Morgana.
* * *
Am folgenden Tag lief Marion ziellos in der Stadt herum. Das Beispiel von Kashgar hätte sie warnen sollen, dennoch war sie erschrocken, mit welcher brachialen Gewalt auch dieser alten Seidenstraßenoase ein chinesisches Gesicht verpasst worden war. Vierspurige Straßen schlugen Schneisen durch die uighurischen Wohnviertel und verdrängten die Alteingesessenen in den Schatten billiger Plattenbauten für die chinesischen Zuwanderer. Auf den neuen Straßen herrschte wenig Verkehr. Autos gab es kaum, dafür umso mehr Warnschilder, die deutlich machten, wer die Straßen nicht benutzen durfte: Eselskarren, Kamele, Fahrradfahrer, Ziegenherden. Uighuren müssen draußen bleiben, dachte Marion zynisch.
Zum Glück hatten die Stadtplaner es bisher nicht gewagt, die historische Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Marion schlenderte durch die traditionellen Wohnviertel mit ihren Moscheen und Märkten. Noch war die uighurische Welt nicht völlig ausradiert.
Zwei robust aussehende Händlerinnen winkten sie an ihren mit einem Berg billiger Schuhe beladenen Karren. Schnell bildete sich ein Menschenauflauf um Marion und die dicke Wortführerin, die sich gestenreich verständlich machte. Woher Marion käme, wie alt sie sei, ob sie verheiratet sei, ob sie Kinder habe. Dabei lachte sie unaufhörlich. Marion reichte ein Foto von ihr und Thomas herum, und er wurde gründlich bestaunt. Eine junge Frau gab Marion das Bild zurück. »Gözel!«, sagte sie. Hübsch. Es stimmte: Thomas war hübsch. Ohne einen Blick auf das Foto zu werfen, schob Marion es zurück in ihre Tasche.
Das Verhör lockte immer mehr Menschen an. Marion war es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, und es machte ihr nichts aus, wieder und wieder die gleichen Pantomimen aufzuführen, obwohl sie lieber weitergegangen wäre. Das
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