Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
machte, einer Dunkelheit ohne Bedrohungen. Die regelmäßigen Atemzüge der beiden kleinen Jungen, deren Lager an der gegenüberliegenden Wand errichtet waren, lullte sie schnell in einen leichten Schlaf.
Es war noch immer stockfinster, als sie erwachte. Vor der Zimmertür stritten zwei Menschen mit mühsam unterdrückten Stimmen. Marion konnte Batügül und einen Mann unterscheiden, wahrscheinlich Osman. Ein Wort gab das andere, dann flog die Tür auf, und Batügüls Silhouette war kurz zu sehen. Die Tür schlug wieder zu. Marion hörte, wie sich die Ärztin auszog, Decken raschelten, ein Seufzer, Stille. Hatte der Streit etwas mit ihr zu tun gehabt? Marion machte sich keine Illusionen: Batügüls jüngerer Bruder war alles andere als erfreut über ihre Anwesenheit. Diesmal dauerte es lange, bis sie wieder in den Schlaf fand.
* * *
Li Yandao saß in seinem Büro und spielte geistesabwesend mit einer kleinen Figur der Göttin Kuan Yin. Seit einer kurzen und nüchternen E-Mail vom Tag ihrer Ankunft in Khotan hatte sich Ma Li Huo nicht mehr gemeldet. Noch beunruhigender war die Tatsache, dass sie seit fünf Tagen von der Bildfläche verschwunden war. Niemand hatte sie das Hotel in Khotan verlassen sehen, und ihre Kaution von fünfzig Yuan lag noch in der Rezeption. Der Polizist, der Ma Li Huo beschatten sollte, hatte alle Hotels der Stadt abgesucht und Erkundigungen auf dem Busbahnhof eingezogen: ohne Ergebnis. Ma Li Huo hatte sich in Luft aufgelöst.
Behutsam verstaute Li Yandao die Göttin der Barmherzigkeit in seiner Schreibtischschublade. Die Figur war ein Erbstück seiner Großmutter, der es gelungen war, sie während der Kulturrevolution vor den Roten Garden zu verstecken. Li Yandao war nicht religiös, aber es gab Situationen, in denen er die Göttin um Hilfe bat. Heute war einer dieser Tage. Lass Ma Li Huo nichts zugestoßen sein, flüsterte er. Es muss eine harmlose Erklärung für ihr Verschwinden geben.
Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer seines Kollegen in Khotan.
* * *
Marion kehrte schlaftrunken aus der Küche zu dem Zimmer zurück, das sie sich mit Batügül teilte; Koresh war für die Zeit von Marions Besuch in Osmans Zimmer gezogen. In den Händen hielt sie zwei Becher Tee, für sich und die Ärztin. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, aber die Sterne waren noch nicht vollständig verblasst. In der Tür blieb sie abrupt stehen: Batügül hatte sich ein schwarzes, weit über die Schultern fallendes Kopftuch umgebunden. Mit geschlossenen Augen stand sie aufrecht in der Mitte des Raums; die Hände hielt sie mit den Handflächen nach innen vor ihr Gesicht und rezitierte andächtig arabische Koranverse. Dann versank sie in die tiefe, ehrerbietige Verbeugung der Muslime. Ihre Stirn berührte den Boden.
Marion schlich leise auf die Veranda und ließ sich auf den Teppichen nieder. Sie wollte nicht stören. Schweigend beobachtete sie, wie der Tag die Welt zurückeroberte und den Hof mit einem Schleier aus pudrigen Farben überzog. Batügüls Mutter trat aus dem Nachbarzimmer, gähnte ausgiebig und ging dann zur Küche, ohne in Marions Richtung zu schauen.
Marion folgte ihr mit den Augen, und ein Gefühl der Zugehörigkeit breitete sich warm in ihr aus, wie der Tee, den sie in kleinen Schlucken trank. Seit acht Tagen lebte sie nun schon als Gast in dem Haus von Batügüls Familie. Sie kochte und aß mit ihnen, brachte Negat deutsche Kinderspiele bei und machte sich nützlich, soweit es ihr möglich war. Friedliche Tage, in denen sie die Außenwelt ignorieren konnte. Nur zwei Mal hatte sie mit Batügül einen Ausflug gemacht und war jedes Mal froh gewesen, wieder zurückzukehren.
Batügül und Koresh stellten erstaunlich wenig Fragen. Für sie war es ein Gebot der Gastfreundschaft, Marion einen Ort zur Verfügung zu stellen, an dem sie wieder zur Ruhe kommen konnte.
Nichtsdestoweniger hatte Marion Gewissensbisse. Sie hatte ihnen zwar von dem Ermordeten, dem Einbruch und dem Kommissar erzählt, nicht aber von der kleinen Pferdefigur, von der sie im tiefsten Inneren ahnte, dass sie das ganze Unglück erst heraufbeschworen hatte. Sie hatte Batügül gesagt, dass sie überreizt sei und sich einbildete, von einem Mann verfolgt zu werden. Ob die Ärztin ihr die Geschichte abnahm, wusste Marion nicht.
Obwohl sich zwischen ihr und der Uighurin eine echte Freundschaft entwickelt hatte, gab Batügül Marion immer wieder Rätsel auf. Die tiefe Religiosität der Uighurin ließ sich in Marions
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