Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
blitzschnell hervor. Die Schildkröte fauchte – bereit, ihr Leben zu verteidigen. Der Kampfesmut des kleinen Wesens imponierte Marion. Ohne nachzudenken, fragte sie den Verkäufer nach dem Preis.
Mit der Nonchalance eines Mannes, der es gewohnt ist, jeden Tag zwei Dutzend Schildkröten an westliche Touristen zu verkaufen, nahm er ihr das Tier aus der Hand, legte es auf eine Waage und nannte den Preis. Marion war überzeugt, dass er zu viel Geld verlangte, aber sie hatte keine Lust zu handeln. Mit der in Zeitungspapier gewickelten Schildkröte verließ sie den Markt. In einer ruhigen Seitenstraße setzte sie sich auf eine Treppe und öffnete das Paket.
Die Schildkröte war etwa vierzehn oder fünfzehn Zentimeter lang. Mit ihren kleinen Füßchen ruderte sie in der Luft herum. Das Tier hatte Schwimmhäute und an der Seite des Kopfes einen roten Streifen. Marion hatte diese Art von Schildkröten vor langer Zeit im Aquarium einer Zoohandlung bewundert. Sie hatte eine Wasserschildkröte gekauft. Auch das noch.
Sie wickelte das sich heftig wehrende Tier wieder ein und eilte ins Hotel zurück. Dort füllte sie die Badewanne mit warmem Wasser, stellte den Spucknapf mit der Öffnung nach unten hinein und ließ die Schildkröte in die Wanne gleiten. Sofort begann das Tier, Runde um Runde zu schwimmen, als wollte es all die Wochen der Bewegungslosigkeit kompensieren. Marion setzte sich auf den Badewannenrand. Sie hatte gehört, dass es bei den Buddhisten als gut für das Karma galt, wenn man ein Tier befreite und in der Natur aussetzte. Die Sache hatte allerdings einen Haken: Marion hatte keinen blassen Schimmer, wo es in Zhangye schildkrötengerechte Natur gab. Zhangye war eine Oase. Laut Stadtplan gab es einen Park mit einem Teich, aber sie wusste nicht, ob eine Schildkröte dort die passende Nahrung finden konnte. Sie wusste überhaupt sehr wenig über Schildkröten.
Das im Kreis schwimmende Tier hatte eine beruhigende Wirkung. Marion merkte, wie sie sich mit jeder Runde mehr entspannte. In China waren Schildkröten das Symbol für ein langes Leben, was nicht verwunderlich war.
Marion gab sich einen Ruck. Ob ihre Schildkröte ein langes Leben haben würde, hing allein von ihr ab. Das Tier musste etwas zu fressen bekommen. Sie hob es aus dem Wasser und setzte es auf den Spucknapf, dessen Boden knapp über die Wasseroberfläche ragte.
»Wenn du dich ausruhen willst, musst du das hier tun. Kannst du dir das merken?«
Die Schildkröte ignorierte sie und stieß sich von dem Spucknapf ab, um ihre Bahnen fortzusetzen.
»Wie du willst. Ich gehe jetzt und hole dir Futter. Irgendwelche Wünsche?«
Während sie sich ihre Jacke überzog, streifte ihr Blick den Ferrari auf dem Schreibtisch. Thomas würde über ihren neuen Reisepartner begeistert sein. Sie streckte den Kopf noch einmal ins Badezimmer.
»Ich werde dich Bruder Tuck nennen. Ist das okay? Oder bist du ein Mädchen?«
Zur Antwort tauchte Bruder Tuck auf den Grund und sah sie aus wissenden Augen an. Marion wertete es als Einverständnis.
Mit einem Bund Blattgemüse, zwei Packungen Schildkrötenfutter, einem tiefen Plastikeimer mit Henkel und einer Ausgabe der »Dornenvögel« kam Marion zwei Stunden später ins Hotel zurück. Sie streute die Gemüseblätter und ein wenig von dem Spezialfutter in die Badewanne. Bruder Tuck machte sich mit Heißhunger darüber her.
»Schmeckt es dir? Es war nicht einfach, den Leuten in der Zoohandlung zu erklären, dass ich mit einer Wasserschildkröte unterwegs bin«, sagte sie.
Bruder Tuck biss ein dreieckiges Stück aus einem der Blätter.
Weil sie ihn nicht stören wollte, verzichtete Marion aufs Duschen und ging ungewaschen ins Bett. Im Vorbeigehen griff sie nach ihrer Jacke: Seit ein paar Tagen gehörte es zu ihrem allabendlichen Ritual, sich das Jadepferd vor dem Schlafengehen noch einmal anzusehen. Sie kuschelte sich unter die Decke, öffnete die Jackentasche und holte das Kästchen hervor. Dann hielt sie die Figur vor die Nachttischlampe, deren Glühbirne ausnahmsweise nicht durchgebrannt war oder fehlte. Im Gegenlicht glühten die Ränder der Jade hellgrün auf; die goldenen Buchstaben und das rote Auge blitzten. Nachdem sich Marion sattgesehen hatte, legte sie die Figur mit leisem Bedauern wieder zurück. Das Pferd gab ihr sein Geheimnis nicht ohne weiteres preis.
Marion richtete sich auf, um nach der Jacke zu greifen, die auf den Boden gerutscht war. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und ließ das Kästchen los.
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