Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Lautsprechern Folge zu leisten, bis ein paar Mutige aus den höheren Klassen meuterten und einfach in das schützende Schulgebäude liefen. Zwei Minuten später war der Schulhof menschenleer gewesen. Mit der vielzitierten Disziplin der Chinesen ist es auch nicht mehr weit her, hatte Marion ein bisschen boshaft gedacht und war wieder ins Bett gekrochen.
Der Hunger trieb sie schließlich auf die Straße. Nach dem Essen ging sie noch einmal in das Internetcafé.
Batügül hatte eine lange Mail geschrieben. Die ganze Familie sandte ihre Grüße. Sie waren froh, dass Marion bei dem Busunfall nur leicht verletzt worden war.
Jenny und Greg hatten ihre Pläne geändert und flüchteten vor der Kälte. Noch am selben Abend wollten sie den Zug nach Xi’an nehmen. Jenny fragte, ob Marion Lust hätte, sich mit ihnen ein Zimmer zu teilen. Sie planten, in der Jugendherberge am Südtor abzusteigen. Marion sah auf ihre Uhr: Der Nachtzug hatte Zhangye vor einer Stunde passiert. Die beiden hatten sie überholt.
Thomas hatte nicht geantwortet. Sie schrieb ihm, dass sie in Xi’an in der Jugendherberge zu finden sein würde.
Li Yandao hatte geschrieben, er bedanke sich für die Kekse, sähe es aber lieber, wenn sie sich endlich meldete. Er mache sich große Sorgen um sie. Die Kekse seien übrigens schon fast alle, da sich seine Kollegen daran bedient hätten.
Die Erkenntnis traf Marion wie ein Schlag: die Kollegen. Yandaos Kollegen im Polizeirevier. Sie hatten die Schachtel gesehen. Der Uighure mit den langen Haaren war ihr in Turfan auf die Spur gekommen, weil er einen Kollegen von Yandao bestochen hatte – und nichts hinderte ihn daran, den korrupten Polizisten anzuweisen, die Augen nach einem direkt an Li Yandao adressierten Paket offen zu halten und es vielleicht sogar zu stehlen, sollte sich die Gelegenheit ergeben.
Wie konnte sie nur so dumm sein? In ihrer Arroganz hatte sie gedacht, ihr Plan sei wasserdicht, und dabei war sie nicht in der Lage gewesen, eins und eins zusammenzuzählen. Sie musste davon ausgehen, dass der Russe und der Uighure bereits über das Paket Bescheid wussten. Damit war ihnen auch klar, dass Marion sie vorsätzlich in die Irre geführt hatte. Selbst wenn die beiden den Himmelssee nach ihr absuchten, würde es nicht lange dauern, bis sie ihre Spur wieder aufnahmen. Sie hatte den Russen nach Urumqi geschickt, also lag es nahe, dass sie in die entgegengesetzte Richtung gereist war. Es gab nicht viele Möglichkeiten, aus Turfan zu verschwinden: nach Urumqi, Kashgar, Lanzhou. Und natürlich nach Xi’an, dem Tor zum Westen und dem Startpunkt der alten Seidenstraße. Touristen waren berechenbar, und Marion bildete keine Ausnahme.
Klebrige Angst kroch ihr das Rückgrat hinauf und setzte sich schwer auf ihre Schultern. Sie drehte sich hektisch um, halb damit rechnend, den Russen zur Tür hereinkommen zu sehen. Er war natürlich nicht da. Noch nicht. Ihre Registrierung unter falschem Namen hatte ihr etwas Zeit verschafft, außerdem würde der Russe sie wohl kaum in einer obskuren Kleinstadt im Hexi-Korridor vermuten. Das Gebiet, in dem sie sich aufhalten konnte, war so groß wie Deutschland. Größer, wenn sie die gesamte Strecke von Kashgar bis Xi’an mitrechnete. Sie musste diesen Vorteil nutzen. Xi’an besaß fünf Millionen Einwohner, und sie hatte eine reelle Chance, unsichtbar zu bleiben. Vorausgesetzt, sie brauchte ihren Pass in der Jugendherberge nicht vorzuweisen. Aber war Xi’an wirklich sicher? Der Russe war mindestens ebenso versessen auf die Figur wie sie und würde alle Hebel in Bewegung setzen, um sie ihr abzujagen. Marions Herz pochte in ihrem Hals wie nach einem schnellen Sprint. Die Angst lastete immer schwerer auf ihr.
Sie musste so schnell wie möglich nach Deutschland. Nach Hause.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. Der Druck auf ihren Schultern ließ langsam nach, und nach ein paar Minuten hatte sie eine Vorstellung davon, wie ihre nächsten Schritte aussehen mussten. Wenn sie einen kühlen Kopf behielt, konnte ihr nichts passieren. Sie öffnete die Augen, zog die Tastatur zu sich heran und begann mit fliegenden Fingern zu tippen.
In ihrer ersten Mail bat sie Jenny und Greg, ein Dreierzimmer zu buchen, ohne ihren Namen zu erwähnen. Wenn es unvermeidlich war, sollten sie sagen, sie würden ihre Freundin Sylvia Müller erwarten.
Li Yandao schrieb sie, sie sei gerade in Thailand angekommen, es ginge ihr gut und sie hoffe dasselbe von ihm. Dann bezahlte
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