Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Sein Inhalt verteilte sich in hohem Bogen über Nachttisch, Bett und Boden. Verärgert über ihre Tollpatschigkeit suchte Marion die Bambusstäbchen wieder zusammen. Das letzte der Stäbchen lag genau unter der Lampe. Als sie es aufnahm, bemerkte sie überrascht, dass es mit stark verblassten chinesischen Schriftzeichen beschrieben war. Aufgeregt legte sie auch die anderen Stäbchen auf den Nachttisch. Weil sie bisher ihre ganze Aufmerksamkeit dem kleinen Pferd gewidmet hatte, war ihr entgangen, dass die Bambusstäbchen über und über mit Tuschezeichen bedeckt waren. Was mochte dort stehen? War es ein Brief? Eine Botschaft? Ihr Fund wurde immer interessanter. Sie schob die Stäbchen noch eine Weile hin und her, bis sie schließlich ihren Schatz wieder sicher in der Jackentasche verstaute. Ohne die Hilfe eines Sinologen würde sie auch dieses Geheimnis nicht ergründen können.
Bevor sie das Licht löschte, blätterte sie lustlos in den »Dornenvögeln«. In der Buchhandlung hatte sie die Wahl zwischen Pater Ralph und Oliver Twist gehabt. Pater Ralph hatte die Oberhand gewonnen, auch wenn sie davon ausging, dass das Buch vom chinesischen Bildungsministerium zensiert worden war. Es war viel zu dünn. Ein englischsprachiges Buch über Schildkrötenhaltung hatte sie nicht gefunden.
* * *
Früh am nächsten Morgen ging Marion mit federnden Schritten ins Bad.
» Yi – er – san – si, yi – er – san – si, Gu – ten – Mor – gen, Bruder Tuck!«
Bruder Tuck lag auf dem Spucknapf und schlief. Den Kopf hatte er eingezogen, aber die Beine und der Schwanz hingen entspannt ins Wasser. Marion bildete sich ein, dass er glücklich aussah. Ihr selbst ging es richtig gut – Pater Ralph hatte sich als hervorragendes Schlafmittel erwiesen. Während sie sich die Zähne putzte, beschloss sie, sich um ihre Weiterreise zu kümmern und den Rest des Tages mit Sightseeing zu verbringen. Die schweren Wolken vom Tag zuvor hatten sich verzogen, der Himmel war blau und hoch.
Die erste Aufgabe des Tages war zugleich die schwierigste: der Kauf einer Zugfahrkarte. Marion hatte das Symbol der chinesischen Eisenbahn und die Schriftzeichen für »Fahrkarte« auf einen Zettel gemalt und hielt ihn mehreren Fußgängern unter die Nase. Die Befragten wiesen in unterschiedliche Himmelsrichtungen. Marion wählte die Richtung, in die am häufigsten gezeigt wurde, und wiederholte den Vorgang an der nächsten Kreuzung. Es war mühsam, aber nach einer halben Stunde stand sie in der richtigen Straße. Sie studierte konzentriert die Schilder über den Ladeneingängen, bis sie das Logo der staatlichen Eisenbahn entdeckte.
Die Kartenverkäuferin war ausgesprochen nett, sprach ein paar Brocken Englisch und konnte Marion für den übernächsten Tag einen Platz im Schlafwagen nach Xi’an anbieten. Obwohl Marion lieber früher abgereist wäre, stimmte sie zu. Die Fahrt würde über zwanzig Stunden dauern, und sie wollte nicht noch eine Nacht in der Holzklasse verbringen. Zufrieden verließ sie den Verkaufsraum und machte sich auf die Suche nach dem Tempel des Großen Buddha.
Sie fand ihn problemlos und betrat über den Hintereingang des Tempelgeländes einen kleinen, gepflasterten Innenhof, der von zweistöckigen Holzgebäuden umgeben war. Windschief, mit durchhängenden Balkonen und von der Zeit gezeichnet, lehnten sie sich in den Hof, als wollten sie den Mah-Jong- und Go-Spielern zusehen, die unter einem uralten Baum saßen. Chinesische Lampions hingen an seinen Ästen und schwebten wie kleine rote Ufos über den Spielern.
Marion setzte sich an einen freien Spieltisch und ließ sich von der Sonne wärmen. Sie liebte die friedliche Atmosphäre der chinesischen Tempel. Dabei war es einerlei, ob sie alt oder wieder aufgebaut worden waren. Die Roten Garden hatten zwar viele Tempel zerstört, aber nicht deren Seele. Als der Schatten eines Balkons über Marion kroch, raffte sie sich auf und zog los, um den Dafo si zu bewundern.
Auf dem Schild stand, der Große Buddha sei die größte liegende Buddhafigur in China. Zumindest die größte liegende Buddhafigur in einem Innenraum. Ohne Superlativ kommt in diesem Land keine Sehenswürdigkeit aus, dachte Marion amüsiert und betrat die langgestreckte Halle.
Der Buddha war tatsächlich groß. Marion schätzte die Länge des Tempels auf etwa fünfunddreißig Meter, und die Statue füllte den Raum fast aus. Sie ging ans Kopfende und sah dem Buddha in sein vergoldetes Gesicht, dessen halbgeöffnete
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