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Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)

Titel: Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffanie Burow
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Augen entrückt über ihrem Kopf ins Leere blickten. Nein, korrigierte sie sich, nicht ins Leere. Ins Nirwana. Durch die Türöffnungen fielen Strahlen von Sonnenlicht, in denen der Staub tanzte. Auf den mit Zwanzig-Watt-Birnen spärlich beleuchteten Wänden verharrten Jünger und mythische Könige demütig im Angesicht des Erleuchteten. Skulpturen von ausgemergelten Asketen starrten Marion mit wilden, hervorquellenden Augen an. Sie ging um den Buddha herum. Auf der Rückseite erschrak sie vor einem hölzernen Drachen, der im Halbdunkel hing. Marion schlich auf Zehenspitzen weiter. Die Magie des Ortes nahm sie gefangen.
    Nachdem sie sich an dem Tempel sattgesehen hatte, spazierte Marion quer durch Zhangye zum Stadtpark. Zwanzig Minuten später stand sie vor dem verrammelten Tickethäuschen des Parks – im Winter schien der Eintritt frei zu sein. Zhangye gefiel ihr immer besser.

    Die Äste der Trauerweiden tauchten in das Wasser eines künstlich angelegten Sees. Marion überquerte eine halbrunde Brücke zu einem Pavillon in der Mitte des Sees, setzte sich auf eine Bank und blickte auf das stille Wasser. Ob es hier Schildkröten gab? Würde Bruder Tuck sich in diesem Teich wohl fühlen? Bis auf einen mageren alten Mann auf seinem Nachmittagsspaziergang war der Park verlassen. Am gegenüberliegenden Ufer warteten Tretboote mit Drachen- und Donald-Duck-Köpfen auf Kundschaft, die erst im nächsten Frühling kommen würde. Ein leiser Wind löste einige Blätter von den Weiden und wehte sie auf den See hinaus, wo sie gemächlich niedersanken. Marion folgte hypnotisiert dem Kreiseln der gelben Blätter, die wie kleine Boote auf der Wasseroberfläche trieben.
    Die melancholische Stimmung des einsamen Parks kroch in ihr Herz. Sie dachte an den kalten, grauen Morgen in Kashgar, an den traurigen Mann unter der Laterne, der kleiner wurde, immer kleiner, und schließlich ganz verschwunden war. Sie schüttelte das Bild ab und beschwor den letzten Abend in Kashgar herauf, als sie in Yandaos Arm durch die Straßen gegangen war. Sie hätte ewig so weiterlaufen können. Marion schluckte die aufsteigenden Tränen herunter. Es war aussichtslos. Die falsche Zeit, das falsche Land, eine unmögliche Verliebtheit. Sie fühlte sich zu dem sensiblen Mann hingezogen, aber sie sah keine Zukunft für einen chinesischen Polizisten und eine deutsche Studienabbrecherin. Er würde niemals ein Visum für Deutschland bekommen, und wie sollte sie ihr Geld in China verdienen? Eine Klempnerei aufmachen?
    Marion schloss die Augen. Und wenn es doch nicht so aussichtslos war? Der Wind strich über ihr Gesicht, und sie stellte sich vor, dass es Yandaos Hände waren. Zum ersten Mal erlaubte sie sich, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, und verlor sich bald in Träumen, in denen sie Yandao und sich sah, Hand in Hand, vergnügt, glücklich. Wie Bilder aus dem Fotoalbum ihres zukünftigen Lebens reihten sich Schnappschüsse von ihr und dem chinesischen Kommissar aneinander: Yandao und sie in der Verbotenen Stadt in Beijing und vor den romantischen Felsformationen Guilins, sie sah ihn im Königspalast in Bangkok und auf der spanischen Treppe in Rom, ein anderes Bild zeigte sie beide eng aneinandergeschmiegt auf einer Touristengondel in Venedig. Auf dem letzten Bild saß Yandao auf einem Gartenstuhl mit gestreiften Sitzkissen, vor sich ein riesiges Stück Torte. Marion erkannte die Torte sofort: Ihre Mutter buk sie zu besonderen Anlässen.
    Eine einzelne Träne rollte ihre Wange hinab. Marion wischte sie fort und schlug die Augen auf. Es war ein schöner Traum, dachte sie, ein Traum, nicht mehr und nicht weniger. Sie erhob sich. Es war besser, sie vergaß den Mann so schnell wie möglich und konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Das Leben ging weiter. Vielleicht sogar mit Thomas.
    * * *
    Marion konnte sich nicht dazu durchringen, ihre warme Höhle unter den Decken zu verlassen, und verbrachte den nächsten Vormittag lesend im Bett. Bruder Tuck planschte in der Badewanne. Sie hatte sich dagegen entschieden, ihn im Teich auszusetzen, weil sie Angst hatte, dass er im Winter in dem kalten Wasser erfrieren würde. Draußen blies ein Herbststurm tote Blätter und leere Plastikflaschen durch die Straßen, stülpte die Regenschirme der Passanten um und hatte, zu Marions Genugtuung, sogar die Morgengymnastik der Schulkinder durcheinandergebracht. Nass wie die Pinguine hatten die armen Schüler in Reih und Glied gestanden und versucht, den Anweisungen aus den

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