Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
sie und verließ das Café. Sie hatte einiges zu erledigen und musste sich beeilen.
Als Erstes ging sie zum Büro von CITS, dem China International Travel Service, um einen Flug zu kaufen. Die Buchung erwies sich als problematisch, da es weder von Lanzhou noch von Xi’an Direktflüge nach Europa gab. Letzten Endes entschied sie sich für einen Flug von Xi’an nach Bangkok. Dort würde sie versuchen, einen Last-Minute-Platz nach Europa zu bekommen. Es waren noch fünf Tage bis zum Abflug, alle früheren Flüge waren ausgebucht. Obwohl Marion über die Verzögerung alles andere als glücklich war, stopfte sie das Ticket mit einem Gefühl der Erleichterung zu dem Kästchen in die Innentasche. Darum würde sie sich als Nächstes kümmern.
Auf dem Weg zum Hotel gab es einen Laden, der kleine Statuen, Jadeanhänger, chinesische Fächer und andere Souvenirs verkaufte. Ein alter Chinese mit schütterem grauen Haar eilte ihr entgegen, sobald sie die Ladentür öffnete. Unvermittelt pries er ihr in überraschend gutem Englisch den gesamten Inhalt seiner Regale und Vitrinen an.
Sie wehrte ab. »Ich möchte mich erst einmal umsehen.«
»Aber bitte, lassen Sie sich Zeit«, sagte er und zog sich höflich hinter seinen Tresen zurück.
Nachdem sie die Regale und Auslagen durchstöbert hatte, wählte sie die Bronzefigur eines grimmigen Kriegers in reich dekorierter Rüstung.
»Kuan Kong«, erklärte der alte Chinese, »er beschützt das Haus und bringt den Geschäftsleuten guten Umsatz.«
»Haben Sie auch einen, der nicht fürs Geld, sondern für das persönliche Wohlergehen zuständig ist?«
Der Chinese runzelte die Stirn, was sein Gesicht noch faltiger machte. »Ist das nicht das Gleiche?«, fragte er.
»Das würde ich nicht sagen. Gesundheit. Liebe. Freundschaft. Einen Beschützer in schlechten Zeiten. Darum geht es mir.«
»Da kann ich Ihnen helfen.« Der alte Chinese trat zu einem Regal und zeigte auf eine weiße Porzellanfigur. Es war eine aufrecht stehende Person in fließenden Gewändern; die abstrakten Gesichtszüge erinnerten Marion an die chinesischen Buddhadarstellungen, die sich nicht darum scherten, dass Buddha ein Inder war.
»Wer ist das?«
»Das ist Kuan Yin, die Göttin der Barmherzigkeit.«
»Ich nehme sie.«
»Wollen Sie den Kuan Kong auch haben?«
»Ja. Außerdem einen Fächer und zwei von den Jade-Amuletten. Ich hoffe doch, dass ich Mengenrabatt bekomme«, sagte Marion mit unschuldiger Miene.
Der Chinese antwortete ebenso unschuldig: »Ich werde Ihnen einen guten Preis machen.«
Sie verhandelten fast eine halbe Stunde, bis sie sich auf einen Preis geeinigt hatten. Marion nahm ihr Paket und eilte hinaus. Die Zeit lief ihr davon. Sie hatte nur noch eine Stunde, bis das Postamt schloss.
Als sie sich in der Tür umdrehte, um dem alten Chinesen zum Abschied zuzuwinken, blieb ihr Blick an einer kleinen Bronzefigur haften. Die etwa fünfzehn Zentimeter hohe Figur stellte ein Pferd in vollem Galopp dar. Als Sockel fungierte eine Schwalbe; nur einer der Hufe berührte den Rücken des Vogels, die anderen drei Beine schwebten in der Luft. Das Pferd hatte keinerlei Zaumzeug oder Schmuck und sah mit seinen weit aufgerissenen Augen und dem zu einem Wiehern oder Schnauben geöffneten Maul sehr lebendig aus. Obwohl es im Gegensatz zu der Pferdefigur in Marions Tasche eine Vollplastik und aus einem anderen Material hergestellt war, ähnelten sich die beiden Kunstwerke im Stil.
Der Ladenbesitzer war hinter Marion getreten.
»Beeindruckend, nicht wahr? Das ist Tian Ma, das Himmelspferd. Selbstverständlich nur eine Replik.«
Marion, die versunken die Figur betrachtete, horchte auf.
»Ein himmlisches Pferd? Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
Der Mann wies auf einen Stuhl.
»Setzen Sie sich. Ich koche einen Tee, und dann erzähle ich Ihnen von den Himmlischen Pferden.«
»Ich würde die Geschichte gern hören, aber ich muss zum Postamt. Wie lange haben Sie geöffnet?«
»So lange ich Lust habe. Aber ich habe einen besseren Vorschlag: Um die Ecke gibt es ein Restaurant, das hervorragendes mapo dofu, Tofu nach Art des Pockennarbigen, macht. Würden Sie mir dort Gesellschaft leisten?«
Da war sie wieder, die spontane, aufrichtige Freundlichkeit, die allem Vagabundieren, all dem Fernweh einen Sinn gab. Die Freundlichkeit, die überall auf der Welt zu Hause war, die alle Barrieren – seien sie durch Sprache, Rasse, Alter oder unterschiedliche soziale Schicht entstanden – mit einem einfachen Lächeln
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