Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
fristeten in Plastikwannen ihr kurzes Dasein. In feinmaschigen Drahtkäfigen verknoteten sich Schlangen zu großen Klumpen. Schildkröten mit rüsselförmigen Nasen schlugen sich bei dem Kampf um den besten Platz mit ihren Krallen furchtbare Wunden in die weichen Panzer. Marion sah einen über und über mit Blut bespritzten Jungen von zwölf oder dreizehn Jahren, der im Akkord Aale schlachtete. Ungerührt nahm er einen Aal nach dem anderen aus der wirbelnden Masse in dem Aquarium vor sich, drückte den Kopf des sich windenden Tieres auf einen Nagel, schlitzte es mit einer fließenden Bewegung der Länge nach auf und zog die Eingeweide heraus. Dann warf er den Kadaver auf einen Haufen zu den anderen. Viele der Fischleichen zuckten noch.
Jenny wurde blass.
»Mir ist schlecht. Können wir bitte weitergehen?«
Marion hatte ebenfalls genug gesehen. Wortlos nahm sie Jenny bei der Hand und zog sie zum Ende der Gasse, wo sie den abstoßenden Blutgeruch nicht mehr in der Nase hatten. Jenny lehnte sich gegen eine Hauswand, beugte den Oberkörper vor und stützte die Hände auf die Oberschenkel.
»Das war heftig«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Ich werde mich nie an diese Tierquälerei gewöhnen. Am liebsten hätte ich es genauso gemacht wie du mit Bruder Tuck und alle adoptiert.«
»Dann müssten wir ein mobiles Schwimmbad mieten«, bemerkte Greg, der die beiden Frauen endlich eingeholt hatte. »Entschuldige meine dumme Bemerkung. Ich fand es auch ziemlich furchtbar.« Er zündete eine Zigarette an und gab sie Jenny.
Sie nahm einen tiefen Zug. »Manchmal frage ich mich, ob ich nicht doch zu zartbesaitet für Länder wie diese bin«, sagte sie.
Marion strich ihr beruhigend über den Rücken, bis Jenny die halb aufgerauchte Zigarette fallen ließ und sich aufrichtete.
»Mir geht es wieder besser. Wenn ihr wollt, können wir noch ein wenig herumlaufen, aber heute betrete ich nur noch Gemüsemärkte.«
»Eigentlich bin ich auch ziemlich groggy«, sagte Marion. »Meinetwegen können wir den Tag auch in der Bar der Jugendherberge beschließen.«
Jenny und Greg waren mit Marions Vorschlag einverstanden, und sie machten sich auf den Rückweg. Als sie an der Xi’an Kaijuan Shopping Mall vorbeikamen, blieb Marion wie angewurzelt stehen.
»Da!«
»Was denn?«, fragte Greg.
»McDonald’s!«
»Ich hätte es ahnen müssen. Jenny und mir ging es vorgestern genauso. Willst du rein?«
Marion nickte. Nach all dem Hammel in Xinjiang erschien ihr die McDonald’s-Filiale wie ein verheißungsvoller Tempel kulinarischer Freuden. Erschreckend, was das Reisen mit einem anstellte.
»Das ist gut«, murmelte Jenny, als sie hinter Marion das Fast-Food-Restaurant betrat. »In dem Laden kann ich sicher sein, dass mich nichts an lebende Tiere erinnert. Ich fürchte, ich werde heute Nacht Alpträume von Aalen haben.«
* * *
Am nächsten Tag erwachte Marion erst gegen Mittag. Sie traf Jenny und Greg in dem Restaurant, das im hintersten Gebäudeteil der Jugendherberge untergebracht war. Die beiden hatten es sich auf einem abgewetzten Sofa gemütlich gemacht und blätterten in mehrere Wochen alten, zerfledderten Newsweek-Ausgaben. Marion bestellte sich ein Frühstück mit Brot und Marmelade – ein Luxus, auf den sie seit Wochen hatte verzichten müssen – und ließ sich in einen Sessel neben dem Sofa fallen.
»Guten Morgen.«
»Hi, Marion.« Greg ließ die Zeitschrift sinken. »Du siehst wesentlich besser aus als gestern«, stellte er fest.
Marion balancierte ihren Teller auf den Knien und strich Marmelade aufs Brot. »Mir geht es auch besser. Der Russe beherrscht im Moment nicht jeden meiner Gedanken – nur jeden zweiten«, fügte sie mit einer Grimasse hinzu. »Und wie sieht es bei euch aus? Habt ihr schon Pläne für heute?«
»Nein. Wir möchten den Tag gern mit dir verbringen und haben deshalb gewartet. Hast du einen Vorschlag?«
»Allerdings. Lasst uns ins Shaanxi-Museum für Geschichte gehen.«
Marion schlenderte an den Vitrinen vorbei und sah sich die Ausstellungsstücke an. Im Stillen dankte sie dem alten Ladenbesitzer aus Zhangye für seine Empfehlung: Das Museum beherbergte die größte und schönste Sammlung chinesischer Kunst, die sie bisher gesehen hatte, und der Gebäudekomplex genügte allen Ansprüchen moderner Museumsarchitektur. Die Ausstellungsräume waren geräumig, die Vitrinen übersichtlich, wodurch die Gegenstände gut zur Geltung kamen.
Vor einer Vitrine blieben Marion, Jenny und Greg stehen und
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