Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
Verständnis dafür gehabt hätte.
* * *
Zur selben Zeit, dreieinhalbtausend Kilometer entfernt, betrat eine Uighurin in einem dunkelroten Mantel den Gastraum im ersten Stock des Intizar-Restaurants in Kashgar und sah sich suchend um. Im Gegensatz zu den anderen weiblichen Gästen des muslimischen Restaurants, die bunte Kopftücher und lange Kleider trugen, wirkte sie elegant und weltgewandt, und ihre offenen Haare zogen sowohl bewundernde als auch missbilligende Blicke auf sich.
Li Yandao winkte ihr zu. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie sich ihm näherte, aber sie ignorierte seine zum Gruß ausgestreckte Hand. Li Yandao hätte sich für seine Taktlosigkeit ohrfeigen können. Er war seit sechs Jahren in Xinjiang und trampelte immer noch in die kulturellen Fettnäpfchen.
»Entschuldigung«, murmelte er zerknirscht auf Uighurisch.
Die Frau ließ sich bereitwillig aus dem Mantel helfen, unter dem sie einen Hosenanzug im westlichen Stil trug. Als sie sich vorstellte, sah sie Li Yandao offen ins Gesicht.
»Es freut mich, dass Sie sich Zeit für ein Treffen genommen haben, Kommissar. Ich bin Batügül.«
»Ich freue mich ebenfalls. Bitte nennen Sie mich Yandao.«
»Vielen Dank. Ich sterbe vor Hunger. Was können Sie empfehlen?«
»Die Fleischspieße sind gut, die Suppen ebenfalls. Am besten probieren Sie die Gemüsesuppe mit Hammel. Es ist mein Lieblingsgericht im Intizar.«
Seine Sätze kamen sehr langsam und überlegt. Es imponierte Batügül, dass er sich auf Uighurisch mit ihr unterhielt. Sie spürte nichts von den Vorbehalten, die viele Chinesen den Uighuren gegenüber hegten.
Als sie ihn angerufen hatte, um ihn zum Essen einzuladen, schlug er das Intizar vor mit dem Hinweis darauf, dass es halal sei.
»Sie kommen oft hierher?«, fragte sie.
»Sehr oft. Ich mag die Atmosphäre. Und das Essen natürlich.«
Batügül wechselte ins Chinesische. »Ich schätze es sehr, dass Sie meine Muttersprache sprechen. Wenn Sie möchten, können wir uns aber auch auf Chinesisch unterhalten.«
»Gern«, sagte Li Yandao erleichtert. »Es ist eine Schande, dass ich nicht fließend Uighurisch spreche. Ich quäle mich immer noch mit der verzwickten Grammatik herum. Dafür ist Ihr Chinesisch fehlerlos.«
»Ich habe studiert. Medizin.«
Eine Kellnerin trat an ihren Tisch, und Li Yandao gab die Bestellung auf. Dann wandte er sich wieder Batügül zu.
»Sind Sie nur wegen unseres Treffens nach Kashgar gereist?«
»Nein, ich bin in Familienangelegenheiten hier. Morgen fahre ich zurück nach Khotan.«
»Sie sagten am Telefon, dass Sie Ma Li Huo kennen und mich deshalb sprechen wollten. Was hat Sie dazu bewogen, mir zu verraten, dass Sie Ma Li Huo beherbergt haben?«
»Ich mache mir große Sorgen. Als sie damals mitten in der Nacht zu uns kam, war sie völlig aufgelöst und stammelte etwas von einem Verfolger.«
»Verfolger?«
»Genau. Doch schon am nächsten Tag hat sie es als Hirngespinst abgetan, und wir haben ihr bereitwillig geglaubt. Ich ging davon aus, dass sie nach allem, was sie in Kashgar erlebt hat, einfach nur ein bisschen Ruhe brauchte. Seit ihrer Abreise aus Khotan hat sie mir zwei E-Mails geschrieben, in denen sie versichert, es ginge ihr gut, aber ich glaube ihr nicht. Irgendetwas stimmt nicht. Der Ton ist zu … zu … bemüht fröhlich. Haben Sie Kontakt zu Marion?«
»Sie schreibt mir ähnliche Mails wie Ihnen«, sagte er. »Aber vielleicht beruhigt es Sie zu hören, dass Ma Li Huo in Thailand ist.«
»In Thailand? Das ist neu für mich. Sie wollte doch mindestens bis Ende Januar bleiben. Ist etwas vorgefallen?«
»China ist ihr zu kalt geworden.«
Die beiden sahen sich wortlos an. Batügül vermutete, dass der Polizist seine eigenen Schlüsse aus Marions überstürzter Abreise gezogen hatte – und dass es einige Dinge gab, von denen sie nichts ahnte und über die er ihr auch nichts erzählen würde.
Während des Essens unterhielten sie sich über Marions Aufenthalt bei Batügüls Familie. Li Yandaos Interesse an Batügüls Lebensumständen war nicht geheuchelt, und er stellte viele Fragen. Batügül konnte immer besser verstehen, warum Marion so begeistert von ihm gesprochen hatte. Dieser Mann würde niemals ein in ihn gesetztes Vertrauen missbrauchen. Plötzlich hatte sie eine Idee.
»Besuchen Sie uns doch einmal«, sagte sie spontan. »Meine Familie wird Sie willkommen heißen. Wir brauchen Sie ja nicht zu registrieren«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Meinen Sie
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