Die verborgene Botschaft: Roman (German Edition)
pressten die Nasen an die Scheibe, um die filigranen Reliefs auf der Rückseite der dort ausgestellten Bronzescheiben besser betrachten zu können. Ein Schild erklärte, dass es sich um Bronzespiegel aus der Han-Dynastie handelte.
»Die waren ziemlich eitel«, stellte Marion fest.
»Ach was. Die Spiegel wurden benutzt, um Geister und Dämonen aus dem Haus zu treiben«, erklärte Greg.
»Woher weißt du das?«
»Habe ich irgendwo aufgeschnappt.«
Jenny und Greg schlenderten schon Hand in Hand in den angrenzenden Raum, als Marion noch ein großes Keramikkamel bewunderte. Auf einem über seine Höcker gebreiteten Teppich saß eine vollzählige Musikergruppe. Das Kamel hatte den Kopf gehoben und blökte; die Musik schien ihm nicht zu gefallen. Die Keramik war aus der Tang-Dynastie, die in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends China regiert hatte. Marion hatte gelesen, dass die Menschen der Tang-Zeit von der Musik und den Tänzen aus Xinjiang hingerissen waren und viele Artisten- und Musikertruppen nicht nur durch die Wüstenoasen tingelten, sondern sogar am kaiserlichen Hof auftreten durften.
Als sie in den nächsten Raum kam, standen Jenny und Greg gestikulierend vor einer Vitrine.
»Marion, komm her und sieh dir das an!«, rief Greg ihr zu. »Könnte es das sein?«, fragte er und zeigte aufgeregt auf ein kleines Ausstellungsstück, das in einer Ecke der Vitrine neben einigen spektakulären Schmuckstücken ein Schattendasein führte.
Marion bekam eine Gänsehaut.
Auf einem kleinen Sockel lag der hintere Teil eines zerbrochenen Pferdes.
Ihres Pferdes.
* * *
Das Wetter hatte sich über Nacht verschlechtert. Dunkelgraue Wolken hingen bewegungslos über der Stadt und ertränkten sie in unaufhörlichem, eiskaltem Regen. Die Hände tief in den Taschen vergraben, trotteten Jenny, Greg und Marion von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten, ohne im Geringsten daran interessiert zu sein. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Erkenntnis darüber, wie wertvoll dieses Pferd tatsächlich war, hatte ihren Optimismus merklich gedämpft. Marions Verfolger würden alles daransetzen, ihre Spur wiederzufinden.
Am späten Nachmittag saßen sie in einem schmuddeligen Restaurant und stocherten lustlos in ihren Nudeln herum. Als die Bedienung ihnen unfreundlich mitteilte, dass sie den Tisch nicht ewig blockieren könnten, erhob sich Greg abrupt und warf ein paar Yuan auf den Tisch.
»Ich gehe zurück in die Jugendherberge«, sagte er gereizt.
Marion und Jenny sprangen auf und eilten ihm nach. In ihrem Zimmer angekommen, warf sich Greg auf sein Bett und vertiefte sich in ein Buch.
Marion ging in das Gemeinschaftsbad und duschte ausgiebig. Das heiße Wasser vertrieb die Kälte aus ihren Gliedern, aber ihre Niedergeschlagenheit konnte es nicht fortspülen. Als sie zum Zimmer zurückging, hörte sie Greg und Jenny diskutieren.
»Ich denke überhaupt nicht daran, Marion jetzt alleinzulassen. Stell dir vor, einer von uns wäre in eine derartige Situation geraten«, sagte Jenny gerade mit aufgebrachter Stimme.
»Das brauche ich mir nicht vorzustellen, weil wir das Ding von vornherein abgegeben hätten.«
»Bist du dir da so sicher?«
Marion hatte genug gehört. Sie ließ ihre Duschutensilien fallen. Der Lärm brachte die beiden zum Verstummen. Als Marion das Zimmer betrat, stand Jenny am Fenster, während Greg auf einen Punkt an dem oberen Etagenbett starrte.
»Ihr findet mich im Keller in der Bar. Ich brauche ein Bier«, sagte Marion und stülpte ihre geliebte Mütze, die Jenny ihr wiedergegeben hatte, über die nassen Haare. Es wurde noch nicht geheizt, obwohl sich die Temperaturen dem Nullpunkt näherten. Im Hinausgehen schnappte sie sich den Eimer und das Schildkrötenfutter.
Damit es wenigstens der Schildkröte gutging, füllte Marion warmes Wasser in den Eimer. Dann suchte sie sich einen freien Tisch in der Road West Bar und beobachtete Bruder Tuck trübsinnig beim Herumpaddeln. Er stieß sich ständig die Nase an der Eimerwand, und Marion hätte ihm gern den Luxus eines größeren Gefäßes gegönnt, aber dann hätte sie ihn nicht mehr transportieren können. Schließlich stand sie auf und bestellte bei dem Studenten hinter der Bar ein zweites Bier. Es war erst kurz nach sechs. Marion hatte Lust, sich zu betrinken – um ihre Angst zu betäuben. Ihre Angst vor dem Russen. Und ihre Angst vor der Entscheidung der Amerikaner. Sie würde es nicht ertragen, wenn die beiden sie jetzt im Stich ließen, auch wenn sie
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