Die Verborgene Schrift
zusammen. Sie steckte es ein. Nach Frauenart machte sie sich keine Gedanken wegen der Veruntreuung.
Seltsam verwaist schien die Stadt nach dem Tode des silberhaarigen Alten, der da oben jahrzehntelang auf sie herabgeblickt hatte, unveränderlich ruhig und doch so innig zugehörig, ein erdenfernes Gestirn, das unsere Tagesstunden ordnet. Es war, als fehle nach dem Tode des unscheinbaren Männchens, dessen man kaum geachtet hatte, der Zuschauer, für den allein man sein tägliches Werk auf sich genommen hätte, und als lohne sich nun alles kaum.
Martin Balde war am deutlichsten getroffen. Er hatte das Manuskript in Verwahrung genommen und ein wenig Ordnung schaffen lassen da oben. Nun sah das Zimmer fremd aus. Er vermied es. Aber auch zu Hause war ihm fremd zu Sinne, auch da war eine böse leere Stelle: Frau Walde war noch immer leidend. Äußerlich freilich hatte ihr der Steinwurf merkwürdig wenig Schaden angerichtet, der Schreck aber und der nachfolgende Zorn schien das schöne Gebäude ihrer Harmonie verrückt und erschüttert zu haben. In den ersten Tagen sprach sie unaufhörlich sehr laut vor sich hin, anklagend, fieberhaft schnell. Sie, die niemals an sich selbst gedacht hatte, schien nun für nichts anderes mehr Sinn zu haben als für die tiefe Ungerechtigkeit, die man ihr angetan. »Ich eine Prussienne ? Sind wir nicht die allerbesten Franzosen, gerade wir Protestanten? Wer anders als wir hat Straßburg groß gemacht? Ihr hier im Elsaß, ihr seid mindere Franzosen. Nicht einmal die Sprache versteht ihr richtig zu sprechen. Nichts in euch scheint der lateinischen Rasse anzugehören, die in uns lebt. Und diese Elsässer, die wir verachten, haben es gewagt –« So ging es weiter. Weinend bald, bald drohend. Stundenlang.
Françoise trat zu ihr, sie zu beruhigen. Da geschah das Jammervolle, daß die Mutter den Arm ihrer Tochter von sich wegstieß. Ihr Blick bekam etwas Fremdes, Abweisendes. »Du möchtest ja doch nur, daß deine Deutschen uns allesamt totschlügen.« Danach weinte sie bitterlich.
Françoise war zurückgewichen, aber die Mutter kam ihr nach, bat mit einer schwer erträglichen, ängstlichen Demut um Verzeihung und setzte sich dann mit ihrer Handarbeit still ans Fenster.
Von diesem Tage an wurde sie wortkarg. Sie weinte viel und las in ihrer kleinen französischen Mädchenbibel, die all die Jahre her unbenutzt gelegen hatte. Im übrigen trieb sie sanft mit freundlichem Lächeln ihre gewohnten Hausgeschäfte und saß dann abends still mit einer seinen, nutzlosen Handarbeit unter den Ihrigen, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Selbst um die kleine Désirée, die sonst ihre große Freude gewesen war, kümmerte sie sich nicht mehr.
Anfangs hatte man sich gescheut, vor Frau Balde über die traurigen Nachrichten zu sprechen, die allmählich durch die Beschönigungen und offenbaren Lügen der offiziellen Presse hindurchtropften: Bazaine geschlagen, die Turkos aufgerieben und vor allem das Elsaß im Begriff, vom Feinde überschwemmt zu werden. Noch war er nicht bis Mülhausen und Kolmar gedrungen, aber man erwartete das stündlich. Die Bürger verließen massenhaft ihre Heimatsstädte und retteten sich nach der Schweiz.
Balde blickte forschend auf seine Frau, als er das berichtete, aber ihr Gesicht behielt den freundlich teilnahmlosen Ausdruck.
Man saß wie fast immer zur Vesperzeit unter dem Birnbaumdach. Die vorausgegangene Hitze und der nachfolgende Regen hatten die harten, schmalen Blätter gefärbt, daß sie wie metallen schienen, ein Golddach unter feuchtgrauem Himmel. Françoise hatte den Tisch abgeräumt und eine große irdene Schüssel mit Pflaumen vor sich hingestellt, die sie zum Einmachen vorbereitete. Sie sah ein wenig bleich aus, ganz licht in ihrem hellen Haar, mit der weißen Schürze. Hortense, schon etwas unbehilflich, saß auf einem Korbstuhl, vor den man ihr eine Fußbank gestellt hatte, Désirée spielte unter Salmeles Aufsicht auf dem Rasen. In ihrem brennendroten, geblähten Kleidchen flog sie wie eine große Mohnblume hin und her zwischen dem Grün.
Balde umfaßte mit seinem Blick das Friedensbild. Es war dasselbe fast wie vor wenigen Wochen, da Heinrich Hummel hier unter das Birnbaumdach trat, die erste helle, sich unschuldig gebärdende Welle einer gefahrvollen Flut. Heuteschon drohte sie draußen vor den Toren. Und auch die Friedensinsel hier war nicht viel mehr als Scheinbild. Gespannt und erregt waren die Gesichter alle, die damals harmlos geblickt hatten,
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