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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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wehrte ihn ruhig ab. »Sie müssen sprechen,« sagte sie. Sie wunderte sich selbst, wie zwingend es klang. »Also warum?« fragte sie wieder.
    Er sah in die Luft. »Ich habe solche Angst ein Mann zu werden,« stieß er dann heraus.
    »Ein Mann,« sie sah ihn überrascht an.
    »Ja. Heute, nicht wahr, Mademoiselle Balde, heute bin ich noch ein Kind. Ich habe nicht nötig, mich zu entscheiden. Dann aber ...«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll,« fing er wieder mit verzweifelter Stimme an. »Papa und Mama, sie hoffen beide auf mich. Jeder für sein Land. Mama ist wieder ganz zur Deutschen geworden seit dem Kriege. Mein Bruder Germain ist bei den Deutschen eingetreten, bei den Hessen, seine Ausbildung ist schon bald beendet, Mama zittert um sein Leben. Als unsere große Siegesnachricht kam, wagte ich keine Fahne herauszustecken aus Furcht, sie zu betrüben. Unsere Leute aber taten das. Papas Schloß durfte nicht ohne Fahne sein. Papa ist im Hauptquartier beim Kaiser Napoleon, auch für ihn zittert Mama. Sie geht umher wie eine Gestorbene vor Angst. Nur wenn sie am Bett des Schwesterchens sitzt, lächelt sie einmal. Und ich liebe sie, o, ich liebe sie. Alle beide liebe ich sie. Und wenn ich eben für Frankreich gebetet habe, dannwünsche ich wieder Preußen den Sieg, weil mein Bruder dafür kämpft und meine Mutter dafür leidet. Jetzt bin ich noch ein Kind, ich brauche mich nicht zu entscheiden, aber bald – – Ich habe Furcht ein Mann zu werden. Solche Furcht!«
    Françoise hätte sich wieder niedergelassen. Sie blieb jetzt, das Kinn in die Hand gestützt, ruhig sitzen, bemüht, sich unbefangen und nüchtern zu zeigen. »Wenn es nur das ist, Monsieur Arvède,« sagte sie lächelnd, »so können Sie in der Tat ruhig sein. Denn das, was Sie soeben vorhatten, war so ganz kindisch, daß mir scheint, Sie haben noch einen recht langen Weg bis zu dem gefürchteten Augenblick des Mannseins. Nein, mein armer Freund,« – sie nahm seine Hand – »das Mittel, das Sie anwenden wollten, um Ihren beiden Eltern gerecht zu werden, ist so verzweifelt töricht, daß man nur darüber lachen kann.«
    Er sah, den Kopf gesenkt, unter den dichten, langen Wimpern auf sie nieder. Mechanisch begann er dann sich die Dornen von seinem Rocke abzulesen. »Ich bin ein Miserabler,« brach er plötzlich aus. Er zog sein Taschentuch und schneuzte sich heftig. Dann gab er sich einem hilflosen Weinen hin.
    Françoise ließ ihm Zeit. Mehr als sie zeigte und sich selbst gestand, erschütterte sie das Begebnis. Dieser Knabe litt ihr eigenes Leiden. Sie betrachtete ihn schweigend.
    »Ich habe Furcht Mann zu werden,« sagte Arvède wieder, eine Phrase, die er sich tagelang wiederholt haben mochte. Sie schien eine Art Gebetsformel für ihn geworden zu sein. Schon aber war sie nicht mehr ganz echt, war ihm nur ein Schild, hinter dem er sich zu verbergen suchte. Es vergingen mehrere Minuten. Endlich erhob sich Françoise.
    »Wissen Sie, Arvède, was ich mir manchmal für unser Land ausmale? Für dieses arme Land, das ein Grenzland ist, ein Kampfplatz, Wall und Glacis, das man jetzt zertritt! Ich denke es mir nach dem Frieden als einen Garten zwischen zwei großen Flüssen, von beiden fruchtbar gemacht. Die Samen beider Länder jenseits und diesseits der Flüsse mischen sich in ihm, allein in ihm, und bringen neue, fremde Gewächsehervor, die neue, fremde Früchte tragen. Beiden zutragen. Oder ich denke es mir als eine Brücke, die vermittelt zwischen dem Leben der beiden Länder, ihren Austausch fördert, ihr Verständnis.«
    Sie stand da, beglänzt und schön, eine überraschende Klarheit in dem sanft geformten Gesicht.
    Arvède faßte ritterlich ihre beiden Hände, beugte sich und küßte sie voll Dank. Sie kam zu sich, sah den Revolver neben sich auf dem Rasen liegen, bückte sich rasch, fingerte daran herum und entlud die Waffe. Es sah drollig aus, wie sie furchtsam die Augen schloß dabei. Sie lachte selbst darüber, und es war beiden wohl, dadurch von ihrer heiligen Rührung loszukommen. Wortlos reichten sie sich die Hände und trennten sich. Françoise blickte noch einmal zurück.
    Hier an diesem Platze, wo man sie einst so tief demütigte, hatte sie heute im Triumph ein fremdes Leben zurückerobert.
    Seit langer Zeit einmal wieder war sie mit sich zufrieden.
     
    Françoise hatte das Städtchen vermieden. Sie war von der hinteren Landstraße her in ihre Gasse hineingelangt, trotzdem aber spürte sie, daß da drüben wieder Erregung war. Man hörte

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