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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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lächeln. »Unser Land ist eben noch jung, jünger als Frankreich. Es zeigt die Fehler seines Alters. Sache der Jugend ist es, die Vorzüge anderer schwärmerisch zu bewundern und zu versuchen, sie nachzuahmen. Nun wohl. Ebenso aber ist es weit eher ein Zeichen von Altwerden als von Reife, wenn man das nicht mehr vermag. Vielleicht freilich sollten wir Elsässer, ebenso wie der Deutsche, wirklich einmal aufhören, ewig nur unsere Mängel zu bekämpfen. Es wird Zeit für uns, damit anzufangen, unsere eigensten Vorzüge zu kultivieren. Wer das nicht kann, wird im Leben kein rechter Kerl. Hoffentlich sind wir bald endlich so weit.«
    Er nahm die Mappe unter den Arm, die er mit hierher gebracht hatte aus dem Rathaus, und ging über den Hof hinüber in sein Zimmer ...
    Auch Françoise hatte sich gerettet. Sie war nach dem Wald gelaufen. Das tat sie jetzt oft, wenn ihr das Herz überzuquellen drohte. Im Walde wurde sie immer ruhiger. Da fand sie sich zurück zu sich selber, denn da fand sie ihn, den sie liebte.
    Auch heute. Sobald sie über die Bachbrücke trat, wurde ihr Herz fast ruhig. Sie pflückte auf den Wiesen, die nach dem Regen wieder in ihrem unverwelklichen Vogesengrün leuchteten, ein paar dürre Kelche der Frühlingssternblume und dachte daran, wie Heinrich gemeint hatte, sie könne ertrinken unter den hohen weißen Blumen. Sie bückte sich, bog eine Wildfalle auf und erinnerte sich, daß sie damals Feiertag gemacht hatte, Rettungstag für die Tiere, weil er bei ihr war. Sie sah Onkel Blanc vor sich, wie er seinen Brief hervorzog. Jetzt saß er im belagerten Straßburg. Sie sah da an der Thur VaterDugirard angeln; die Weiden streichelte sie, die wieder feucht und tränenvoll waren wie damals. Sie faltete die Hände: wenn nur er ihr erhalten bliebe! In diesem Augenblick war es ihr gleich, ob Frankreich oder Deutschland Sieger würde.
    Sie hob ihr Kleid beim Weiterwandern. Es war feucht da an der Thur. Das Waldgras stand voll bunter Schwämme und lila Herbstzeitlosen, das Laub der Birken hing schon fahl.
    Françoise ging den Weg, den sie mit Heinrich gegangen war. Bis zum Tannennest ging sie, das jetzt voll Wasser stand. Plötzlich horchte sie auf. Aus dem Gebüsch drüben kam ein Geräusch von brechenden Zweigen, als stieße ein wundes Tier sich durch Gestrüpp. Dann wie Murmeln einer Menschenstimme. Es kam naher. »Schrecklich, schrecklich,« sagte es, und dann: »Ich muß es tun.«
    Françoise hielt sich ganz still. Wieder ein Knacken, diesmal heftiger. Sie sah blondes, zerwirrtes Haar, ein paar entsetzte blaue Augen: Arvède von Meckelen. Er stieß einen schwachen Schreckensruf aus, da er Françoise sah, blieb einen Augenblick wie festgewachsen, die vortastende Hand noch erhoben, in sonderbarer Duckstellung. Dann verzog er sein junges, blasses Gesicht, in dem eins Verzweiflung stand, zur Höflichkeit. »Ah, Mademoiselle Balde.«
    Sie erhob sich. Sie faßte ihn bei der Hand, zog ihn vor. Er sträubte sich nicht. Eine Schwäche schien ihn zu überkommen. Er senkte das nun völlig erblaßte Gesicht.
    Françoise betrachtete ihn genauer. Sein Anzug war voll Dornen, seine Hände verschrammt. Und noch etwas sah sie: sein Bubenkittel, seltsam vorn in die Höhe gebeult, verbarg nicht vollständig, was er bei sich trug. Da er sich eben bewegte, so daß ein Sonnenstreifen auf ihn fiel, blitzte es stählern auf. Ein Pistolenlauf.
    Françoise hielt ihren Aufschrei zurück. Sie trat heran und nahm ihm fest und vorsichtig die Waffe aus der Bluse. Der junge Meckelen wehrte sich nicht. Er sah sie an. Dann warf er sich auf die Erde. Er schlug beide Hände vors Gesicht. Er weinte nicht, er lag nur da wie ein Tier, das sich tot stellt, bisseine Verfolger vorüber sind. Françoise kauerte sich bei ihm nieder. Sie nahm ihm die Hände vom Gesicht, sie strich ihm über die Wangen. Sie hatte dabei die guten, klugen Bewegungen ihres Vaters.
    »Warum?« fragte sie leise.
    Arvède antwortete nicht, er hielt die Augen geschlossen.
    Françoise wartete. »Monsieur Arvède,« fing sie wieder an, »lassen Sie uns beide einmal zusammen reden wie zwei alte verständige Leute! Wir, die wir fast noch Kinder sind.«
    Ein schwaches Lächeln kam, aber er antwortete nicht. Dann nahm sie seinen heißen, schmalen Kopf zwischen ihre beiden Hände und zwang ihn aufzublicken. Er tat's, und sein Gesicht füllte sich beängstigend mit Blut. Er schämte sich. Mit einem Sprung war er in die Höhe. Er streckte seine Hand nach der Pistole aus. Françoise

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