Die Verborgene Schrift
letzten heftigen Regengüssen stark angeschwollen war und brauste wie ein großer Fluß.
Das Ereignis gab der hochgespannten Erregung der letzten Tage neue Reibung. Die Besitzlosen betrachteten es als Vorboten der Gewalttaten, die sie selbst zu begehen wünschten, die Wohlhabenden und Begüterten bekamen Furcht. Aber sie wußten sich zu helfen. Sie stellten einfach einen Blitzableiter auf ihr Dach. Mochte es dann wettern und krachen draußen.
Zu diesem Blitzableiter hatte man Balde erwählt.
Allabendlich saßen in der »Krone« der Curé, Quine, Schlotterbach jeune und Bourdon, der zurückgekehrt war, manchmal auch Jules. Sie sprachen über die letzten Vorgänge.
Seltsam, daß der Gendarm den Burschen, der geschossen hatte, nicht auffand. Natürlich wäre es Sache des Maires gewesen, sich darum zu kümmern. Und der – na, man wußte ja.»Ein Mann, der niemals in die Kirche geht.«
»Der immer die Partei der Arbeiter nimmt.«
Der gute Maire! Jedenfalls war er Zeiten wie den jetzigen nicht gewachsen. Wichtige Depeschen warf er einfach in den Papierkorb. Quine wußte das genau. Namentlich war da eine gewesen, die große Erfolge der Franzosen berichtete, aus der hatte der alte Groff, der sowohl bei Baldes wie bei Quine Faktotum war, sich einen Fidibus gemacht. Madame de la Quine hatte das Stück Papier auseinandergefaltet und gelesen, was noch unverbrannt war. Von vielen tausend preußischen Gefangenen hatte da gestanden. Wahrhaftig, es war doch merkwürdig, daß man solche guten und tröstlichen Nachrichten ...
Ja, und war es nicht Balde gewesen, der zuerst den Bericht über die unselige Schlacht bei Wissembourg gegeben hatte? Recht geflissentlich, vor aller Welt. Fast so, als mache es ihm Freude?
»So ist er immer,« zeterte Bourdon dazwischen. »Wenn ich ein Rezept verschreibe – – – « Er wurde durch seinen Sohn unterbrochen, der, scheinbar unvermittelt, eine seiner Kriegserzählungen anfing, die sich bereits im Laufe dieser wenigen Tage zu wahren Heldenmären ausgestalteten, deren tätiger Mittelpunkt er selber war. Der Vater, als sei er selber mit dabei gewesen, half ein und überbot ihn noch. Ab und zu grollte Kanonendonner, aber sehr fern. Und man hatte sich auch schon daran gewöhnt.
Unverjagbar aber tanzte über ihren weinheißen Häuptern die Wolke böser Worte, die sie gegen Balde ausgesendet hatten, ein blutgieriger Insektenschwarm, der zum Fenster hinausschwirrte. Und sich auf sein Opfer stürzen will.
Unten an der Ill stand ein Haufen Leute. Da war eine Knabenjacke angeschwemmt worden, hell und gut gemacht. Der Schneider erkannte sie. Es war ein Jackett von Victor Hugo, das er vom Lyzeum mitgebracht, und zu dem er, der Schneider, ein Paar Hosen gemacht hatte. Seltsamerweise stak in der Tasche des Jacketts eine alte Reiterpistole, die Balde gehörte, dazu ein Papierfetzen, der nach dem Trocknen sich miteiner groben, unorthographischen Schrift bedeckt fand, aus der man folgendes entzifferte: »Am 28. mittags, bald dem Doktor sein Glöckchen läutet. Wir uns alle auf die Wärter werfen. Ihr inzwischen die Wache abtun.«
Am Achtundzwanzigsten war auf den alten mürrischen Wachtsoldaten geschossen worden. Jetzt war's klar. Die Gefangenen hatten einen großen Aufstand geplant gehabt. Irgend jemand von außen hatte ihnen dabei Dienste geleistet. Am Achtundzwanzigsten aber – spürte man dabei nicht sichtbarlich Gottes Finger? – am Achtundzwanzigsten war zum ersten Male auf des Curés Vorstellungen hin das Läuten in der Maison Centrale unterblieben und somit das verabredete Signal für die Revolte nicht ertönt! –
Die Leute raunten und zeterten. »Wenn d'r curé 's Läute net verbotte hätt, d'rno hätte d'prisonniers sich revoltiert, und so müßte mir jetz alle mitnander verrecke. Grad an dem Tag het's solle passiere.«
»Ha, c'est vrai, was brücht er für sich läute z'losse, d'r Maire? Sell isch blasphémie , Gotteslästerung, het d'r curé g'sait.«
»Jo, jo, d'r Herr Maire, der traut sich ebbes. Sunscht isch er jo a rachter, güeter Herr. Awer d' Litt rede so Dings.«
Pfiffer-Schang war der Eifrigste. Er trieb es so arg, daß die Leute unzufrieden wurden. »Schandmül, dreckiges! Nix als Gift hett er in d'r Gosch.«
Sie dringen auf ihn ein. Er wehrt sich. Und auf einmal fällt etwas klirrend zu Boden, ein kleiner Hammer. Man nimmt ihn auf. Auf der einen Seite ein »R« , auf der anderen ein »A« eingehöhlt. Schmied-Louis brüllt auf. Mit einem Griff hat er den schmächtigen
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