Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
Menschen gepackt und ihn wie einen Strohwisch in die Höhe gehoben. Ein Schrei der Wut folgt dem seinen. »Der isch's g'si, der het uns verrote an d' Prussiens.« Sie werfen sich auf ihn, sie reißen ihm die Kleider vom Leibe; aber Schmied-Louis läßt ihn nicht los.
    Als der Maire mit Tränkele herankam, war es schon zu spät.
    An der alten herrlichen Platane in der Klostergasse haben sie ihn zuletzt noch aufgehängt, schon mehr tot als lebendig.
     
    Diesem ersten unwürdigen Opfer des Krieges folgte bald ein edleres und schmerzlicheres.
    Es war an einem Tage, da man ängstlicher als sonst auf das Grollen der Kanonen horchte. Nicht daß es näher gekommen wäre, im Gegenteil, es klang schwächer als da man es von Breisach hörte, viel, viel schwächer, nur der erregtesten Aufmerksamkeit wahrnehmbar. In dem Herzen jedes Elsässers aber hatte es Donnerklang. Straßburg wurde beschossen, das schöne, vielgeliebte Straßburg, das Herz, das Hirn des Landes. Ganz Thurwiller stand auf der Straße. Mit blassen, tiefbetroffenen Gesichtern starrten alle vor sich hin. Man sprach nicht miteinander, klagte nicht. Zum erstenmal trat auch in die fröhlichsten und behaglichsten Genießergesichter ein Zug von Ernst, fast Größe.
    Und auf einmal geschah etwas, das auf alle einen tiefergreifenden, fast schauerlichen Eindruck machte. Père Anselme, den jedermann nur kannte, wie er im Stadthause in seinem Lehnstuhle saß oder mit Papieren raschelnd in den großen Sälen hantierte, von dem jeder immer das Gefühl hatte, er müsse zu Asche zusammenfallen, wenn man ihn an die freie offene Luft brächte, Père Anselme erschien auf der Straße. Er lief. Sein Röckchen, fleckig, altersglänzend, wogte. Das weiße Haar flatterte wie Spinnwebfäden hinter ihm drein, sein Gesicht war totenblaß. »Oh ces barbares, ces monstres,« schrie er »oh ces barbares.«
    Was aber das Schrecklichste war: er weinte. Kein Weinen wie von einem alten, schwachen Manne, ein Weinen, das aus ihm schrie und in ein zitterndes Brüllen ausartete. Seine Augen hatten eine tiefe Röte angenommen. Sie sahen aus wie Wunden.
    »Die Bibliothek,« schrie er, »die Straßburger Bibliothek. Niemand hat die Bibliothek gerettet. Alles verbrennt, alles ist verloren.« Er taumelte und fiel aufs Straßenpflaster. Er war tot. Man hob ihn auf und trug ihn nach dem Rathause hinauf. Er war leicht, wie ausgehöhlt. Oben setzte man ihn in seinen großen Stuhl.
    Als Françoise heraufkam, saß er da, fast wie sonst. Ein wenig mehr zusammengesunken wohl, aber mit jenem Schimmerim Gesicht, den sie an ihm kannte, wenn er ihr von Elsaß' früheren Zeiten erzählte. Vom Elsaß der deutschen Zeit.
    Im Nebensaale standen die Männer: ihr Vater, der Pfarrer, Bluhm und die Stadtältesten. Sie berieten über Aufbahrung, Begräbnis und Feier. Zwei Lichter, in schnell herbeigeholten Gläsern stehend, brannten vor ihm auf dem Schreibtisch, zu beiden Seiten seines dicken, unordentlich gebauschten Manuskripts. Sie brannten still und fahl im Sonnenlicht. Eins der Gläser war das der Welserin, aus dem Françoise vor wenigen Tagen getrunken hatte.
    Françoise schloß die Tür zum Nebensaal. Nun waren sie allein. Sie setzte sich auf ihre alte Truhe und streichelte seine beinweiße, gekrümmte Hand, die noch die Feder zu halten schien. Sie starrte ihm in das stille Gesicht, bis sie vor Tränen nicht mehr sehen konnte. Der Tote und sie, sie hielten gemeinsam Trauerwacht. Sie hatten heute beide ihren großen, verehrten Helden verloren: den Deutschen. Vielleicht hatte er längst nirgends anders mehr gelebt als eben nur noch in dem Toten da und in ihr. Jene Deutschen aber, die da drüben Straßburgs herrlichste Wissens- und Schönheitsschätze verwüsteten und verbrannten, das waren ihre Deutschen nicht. An ihnen war Père Anselme gestorben.
    Ein leichter Wind blätterte gespenstisch im Manuskript. Ein Zettel flatterte heraus. Françoise hob ihn auf. In französischer Sprache stand da:
    »Und so gleicht denn unser armes Elsaß so recht eigentlich jenen alten Pergamenten, die man Palimpseste nennt, und auf denen die alte gotische Schrift mit lateinischer übermalt wurde, bis es endlich einer kundigen Hand gelang, die verborgene Schrift wieder zu Licht zu fördern. Damit dieses Wunder auch bei uns geschehe, müßte aber schon der liebe Herrgott selber herunterkommen und ein großes Wecken blasen.« Darunter stand: »Gespräch beim Besuch des jungen Deutschen, am 10. Juli 1870.«
    Françoise kniffte das Blatt

Weitere Kostenlose Bücher