Die Verborgene Schrift
heimlich ihre Partei. Und gerade das kittete. Man verstand sich fast besser mit diesen Leuten als damals mit den eigenen Soldaten. Diese hier waren sauber und ordentlich, bezahlten, was sie verbrauchten, und liebten dabei außerhalb des Dienstes einen saftigen Scherz. Auch gegen die Offiziere konnte man eigentlich nichts sagen. Sie hielten darauf, daß den Einwohnern ihr Recht wurde, und waren, trotz ihrer kurzen, strengen Art, die sie im Dienste anlegten wie eine Verkleidung, keine Kinderfresser.
So war man im Grunde recht zufrieden in Thurwiller. Aber diese Zufriedenheit verheimlichte man voreinander. Man fürchtete unpatriotisch zu erscheinen. Man fuhr fort, sich als Märtyrer der Zeit zu gehaben, wagte aber dabei nicht, einander ins Gesicht zu sehen. Zuletzt vermied man fast, sich zu treffen. Im übrigen aber hatte man mit der dem Elsässer eigentümlichen Liebe für Behagen und Freude auch aus dieser neuen Phase wieder Honig saugen können.
Die einzigen, die das nicht vermochten, waren die Baldes.
Der Brand des Hauses, das stand jetzt fest, war von unzufriedenen Arbeitslosen angelegt worden. Aber keiner im Hause zweifelte daran, daß diese Leute nur die ausführende Hand darstellten für andere im Hintergrunde. Ganz Thurwiller bemühte sich, dem Maire und seinen Töchtern Mitleid und Freundschaft zu erweisen, man vergaß in blinderSelbstverzeihung rasch alles, was man früher gegen ihn gesagt und gedacht hatte. Aber Frau Balde blieb tot. Und zwischen den beiden Seitenflügeln, die einst so liebreich zu umarmen schienen, war gräßliche Öde. Vater und Töchter wohnten wie auf der Reise im oberen Stockwerk des linken Flügels unter eilig zusammengetragenen, zueinander nicht passenden Möbeln. Nichts um sie herum war gewohnt und vertraulich. Fremd lebten sie mit den fremden deutschen Hausgenossen, die man im unteren Stockwerk eingerichtet hatte, und mit denen sie keine Gemeinschaft pflegten. Nur das Salmele vertrug sich auch mit diesen Neuen wieder vortrefflich.
Manchmal in der Dämmerung hörte Françoise aus dem Wohnzimmer unten Gesang herauftönen. Dann schlich sie sich unter Herzklopfen hinunter, um zu lauschen. Eben erst hatte sie die beiden Offiziere, die jetzt da drinnen zweistimmig Mendelssohn sangen, mit strengen Gesichtern, staubig, todmüde auf ihren Pferden heimkommen sehen, nun zerschmolzen sie in Tönen:
»O säh' ich auf der Heide dort
im Sturme dich, im Sturme dich,
mit meinem Mantel vor dem Sturm
beschützt' ich dich, beschützt' ich dich.
O wär' ein König ich und wär'
die Erde mein, die Erde mein,
du wärst in meiner Krone doch
der schönste Stein, der schönste Stein.«
Françoise fühlte unvermutet, daß ihr Tränen auf die Hände flossen. Der Gesang hatte etwas weggetaut in ihr.
Der eine schien während des Singens im Zimmer herumzugehen. Seine Stiefel knarrten und tappten ungefüge hinein in den Gesang, aber der wurde nur schmelzender und inniger dabei.
»Und wär' ich in der Wüste, die
so braun und dürr, so braun und dürr,
zum Paradiese würde sie,
wärst du bei mir.«
Françoise hielt sich nicht mehr. Mitten auf der Treppe, die sie nach ihrem Zimmer zurücklief, blieb sie stehen, legte den Kopf auf das Geländer und überließ sich einem Sturm von Weinen; einem Sturm, der an ihr riß und löste wie Frühling. Sie trocknete sich die Augen. Die Gewißheit kam ihr zurück, daß das Leben immer noch ein Glück für sie bewahrt halte, und daß sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um es zu halten. »Wärst du bei mir!« Aber der Krieg konnte ja nicht ewig dauern. Mit einem Lächeln auf den Lippen kam sie zu den Ihrigen zurück, die mit ungetrosten Gesichtern beieinandersaßen und Hortenses Abreise berieten. Sie wollte in die Vogesen gehen nach dem kleinen Badeorte Gérardmer.
»Mein Sohn soll in Frankreich geboren werden. Und man muß ja jetzt die Heimat verlassen, wenn man in seinem Vaterlande bleiben will. Vengeur will ich ihn taufen,« sagte sie zu Françoise, »er soll uns rächen an diesen da.«
Sie wies nach dem Garten hinaus, wo die Soldaten mit Tabakspfeifen saßen, flickten und lasen. Schwer in sich versunkene, derbe Menschen mit Riesenfüßen in faltigen Stiefeln und mit struppigen Bärten. »C'est dégoûtant,« murmelte Hortense. Und ihr edles Gesicht verzerrte sich.
Françoise sah sie fest an. »Sie tun ihre Schuldigkeit, man muß sie immerhin achten.«
»Ah?« Es lag eisige Verachtung in diesem einen Wort, das scharf wie ein Messer jede schwesterliche
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