Die Verborgene Schrift
Gemeinschaft zu zerschneiden schien.
Martin Balde richtete seine jetzt immer traurigen Augen auf seine beiden Kinder. Seine noch immer verbundenen Hände griffen erst nach Françoise, dann zu Hortense hinüber. Françoise neigte sich über seinen Sessel und küßte sein graues Haar. Sie preßte die Hand aufs Herz.
Ja, das Leben hielt noch immer das Glück bereit für sie, aber durfte sie es ergreifen? Ein Glück, das aus dem Unglück all der Menschen aufgebaut war, die bislang die Ihrigen gewesen sind?
Von unten scholl das Lachen der Offiziere. Dann ein neues Duett, bewegte sanfte Rhythmen:
»Wohin? Wir ahnen es selber kaum,
es führt uns ein holder, ein süßer Traum.«
Jetzt aber schüttelte sie das Weiche, Schwimmende des deutschen Singens da unten von sich ab wie etwas Gefährliches.
Gerade an diesem Tage erhielt Françoise ein »an den Maire von Thurwiller« adressiertes deutsches Feldpostpaket von Heinrich. Ein Brief und sein Tagebuch. Sie wurde fast ohnmächtig vor Freude. Erst jetzt fühlte sie, wie sehr sie sich um ihn gesorgt, sich nach ihm gesehnt hatte.
Der Brief war vom ersten September. Fünf vorhergehende, von denen er sprach, waren nicht in ihre Hände gelangt. Auch diesen glaubte er vergeblich geschrieben. »Man befördert nicht nach Feindesland.« Nach den trockenen ersten Berichtworten kam dann mit völlig veränderter, wie fliegender Schrift:
»Nein, man befördert nicht nach Feindesland, mein Lieb, aber jetzt geht deutsche Feldpost zwischen uns, jetzt sind wir uns nahe. Eben da ich Dir schrieb, wurde ich durch Jubel unterbrochen, donnernde Hurras, dann Musik. Die Luft zitterte. Ich lief hinaus. Der König mußte gekommen sein oder der Kronprinz. Aber nein, so jauchzt man Menschen nicht zu!
Und da hörte ich's ja denn, der Krieg ist aus, Napoleon gefangen, die ganze französische Armee hat kapituliert.
Man umarmt und küßt sich. Unsere Verwundeten weinen vor Glück. Alle Leiden sind vergessen. Jetzt ist der Krieg aus. Und nicht umsonst ist all das junge Blut geflossen. Sieg, Sieg, Heimkehr, Frieden. Ringsum von den Bergen klingen Freudenmärsche. Diese Stunde ist ein Leben wert. Warum kann ich sie nicht mit Dir teilen?
Aber warte nur, bald werden wir alles gemeinsam besitzen und erleben. Elsaß gehört wieder uns. Elsaß kehrt zu seinem Ursprungsland zurück. Unser beider Elsaß jetzt!
Das, was ich in ganz kühnen Stunden hoffte, wenn ich hier im Felde Deiner dachte, hat sich erfüllt: Wir haben jetzt ein gemeinsames Vaterland, wir zwei. Der Krieg ist aus, bald komme ich. Dich mir zu holen, mein blondes deutsches Mädchen.Nachschrift. Morgen bringe ich meine Verwundeten aus Toul nach Nancy.«
Françoise ließ den Brief sinken. Ihre Lippen verzogen sich.
Ihr gegenüber im Spiegel sah sie ihr Bild. Sie hatte sich in Schloß Meckelen für die Krankenpflege ihr Haar abgeschnitten. Kühn und knabenhaft schaute sie sich aus dem Glas entgegen. Und er schrieb an sein »blondes deutsches Mädchen«. War sie das? Und war sie das überhaupt, an die er schrieb? Diese Sanfte, Geduldige, die sich über den Sieg der deutschen Waffen freute, über das Deutschwerden des Elsaß freute?
Sie nahm sein Tagebuch, blätterte erst darin, las sich dann fest und las drin viele Stunden. Und während sie so las, war sie wieder ganz bei ihm, alles Trennende versunken.
Das Buch begann mit den ersten Tagen des Ausmarsches. Der Umschlag trug innen ihren Namen und ihre Adresse, dazu die Bemerkung, daß man es im Falle seines Todes ihr zustellen sollte.
Also nicht seiner Mutter, sondern ihr! So zusammengehörig fühlte er sich mit Françoise. Das Gesicht brannte ihr.
Heinrich schrieb nur Tatsachen. Meist mit Bleistift in Eile und Müdigkeit, knapp aufgezeichnet, später ausführlicher und manchmal schildernd.
Heinrich erzählte die Eisenbahnfahrt durch Süddeutschland. Das neue Gefühl des Zusammenhaltens, das Norddeutsche und Süddeutsche verband. Dann die Grenze. »Ich überschreite sie als Feind, aber ich bin dadurch wieder der näher, die ich liebe.« Und überall ruhiges Selbstbewußtsein ohne Ruhmredigkeit.
»Französische? Sieg bei Saarbrücken. Macht nichts, wir sind unterwegs.«
»Bitsch von uns beschossen, sagt man, Sieg bei Weißenburg. Mutige fürchten, der Sieg könne beendet sein, ehe sie überhaupt ins Feuer kommen.«
Anfangs war er mit dem Regiment marschiert in Eilmärschen. Aber kein Wort über die Strapazen und Entbehrungen. »Keine Zeit, abzukochen,« hieß es nur, oder: »Streng
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