Die Verborgene Schrift
nicht fortschaffen, endlich gebe ich den Befehl, vorzurücken. Man reißt noch schnell ein paar Karotten aus, den Durst zu stillen, der Sergeant hat Sauerampfer gepflückt ›für die Abendsuppe‹. Gleich darauf eine Rückbewegung bei den vorderen Truppen, ohne daß man weiß, warum. Ein Adjutant überbringt uns den Befehl zum Weitergeben des Rückzuges. Er ist schwierig. Man will sich hinter ein Boskettvon Weiden verstecken, in einem Moment ist es rasiert. Es bleibt nur der Aufstieg in die Terrassengärten, die den Hügel hinter uns bedecken, eingezäunt durch hohe Hecken. Die Zügel lösen sich augenblicklich. Ohne jede Ordnung läuft jeder, sich zu retten. Unmöglich, die Leute zusammenzuhalten. Man klettert über Mauern, kriecht durch Hecken, die Kugeln verfolgen uns, überall Stöhnen und Schreien, das Fallen der Körper. Mein Pferd ist irgendwo da unten geblieben.
Wir gehen in den Obstgärten daher, pflücken Apfel, unsern Durst zu stillen. Plötzlich steht ein Mensch mit großem, blondem Bart vor uns und ruft: ›Hände in die Luft‹. Wir betrachten ihn verblüfft: ein preußischer Offizier. Hinter ihm einige Soldaten, die umhergingen und Gefangene machten. Man sagte uns, daß der Kampf zu Ende ist. Ein Waffenstillstand ist beschlossen. Bazaines ganze Armee geschlagen. Mac Mahon verwundet. Was tun? Der Friede wird gemacht werden. Erst am andern Tage hörten wir, der Kaiser selbst hat sich ausgeliefert. C'est fini.
Man hat uns freigestellt, ob wir nach Deutschland als Gefangene geführt werden wollen oder unser Ehrenwort geben, nichts Feindliches mehr gegen Deutschland zu unternehmen. Ich dachte an Dich, meine Teure, an unsere kleine Tochter und an den Sohn, dem Du das Leben geben willst, und ich schwankte nicht in meiner Pflicht. Es wäre mir süß gewesen, Frankreich befreien zu können, es hat nicht geschehen sollen. Armes, unglückliches Frankreich! Die Tränen kommen mir in die Augen, wenn ich an Dich denke. Man wird uns vorerst auf die Halbinsel Iges führen und dann wohl von dort aus entlassen.
Wer hätte gedacht, daß dieser Krieg so enden würde? Es sind schändliche Verrate dabei im Spiel gewesen, und wir, wir haben es entgelten müssen. Nun ist man wenigstens davon erlöst, sich nutzlos durch Staub und Hitze zu schleppen und niemals den Feind zu sehen. Als Gefangener nach Deutschland zu gehen, wäre Grausamkeit gegen sich selbst und unpatriotisch gegen das Vaterland. Mich schaudert vor dem Gedanken an dieharten Betten dort und an das saure schwarze Brot. Dies aber sind Kleinigkeiten, gegen den Vorteil genommen, den jeder Gefangene dort dem Feinde bietet, da er ihn ja gegen einen seiner in Frankreich gefangenen Landsleute auslösen kann. Urteile selbst, liebe Freundin, ob ich wohl anders handeln konnte, als so, wie ich handle. Ich werde, sobald es mir möglich ist, zu Dir, nach Deinem stillen friedlichen Thurwiller kommen. Dort in der Stille werden wir endlich wieder die erhabenen Freuden friedlicher Häuslichkeit genießen. Küsse für mich die kleine Désirée. Ich umarme Dich mit Leidenschaft. Mut, kleine Frau, auf bald.
Dein Armand.«
Hortense las den Brief langsam und genau, dann reichte sie ihn Balde. Sie sah weiß aus wie ihr Spitzentuch.
»Er muß wieder die Waffen ergreifen für Frankreich.«
»Aber er hat sein Ehrenwort gegeben, Kind.«
»Dann muß er es brechen.«
»Sein Ehrenwort brechen, ein Offizier?« und da sie nur die Achseln zuckte: »Sei froh, Kind, in all dem Elend, daß du ihn lebendig wieder hast!«
Sie schüttelte den Kopf. Feierlich hob sie die Hand. »Wenn er sein Ehrenwort nicht bricht, ist er in meinen Augen ein Ehrloser, zu dem ich nicht mehr zurückkehren werde.«
Sie wartete nicht ab, was ihr Vater etwa ihr noch zu sagen hatte. Auf steifen Füßen schob sie sich zur Türe.
In dem gleichen Augenblick flammte ein großer roter Schein herein. »Jésus Christ, Désirée,« schrie Hortense, »maman.«
Balde hatte denselben Gedanken. »Sie hat in der Küche etwas mit dem Feuer angestellt.« Beide stürzten hinaus. Flammenschein, Brandgeruch, Hitze, von oben her floß ein Feuerstrom über die Treppe. Es prasselte und krachte. Staub dampfte auf und machte fast blind. Aus voller Kehle rufend, tappten Vater und Tochter sich zur Küche. Frau Balde stand da und rührte in einer Kasserolle. »Es brennt,« sagte sie verwundert.
»Wo ist Désirée?« rief Hortense.
»Ich habe sie mit dem Salmele Pilze suchen geschickt.«
Balde griff sie hart an. »Zum Garten hinaus,
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