Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
Vom Netzwerk:
sichere Mauer stand Pierre Füeßli in den nächsten wirr gefüllten Tagen zwischen den beiden Frauen und der übrigen Welt. Wie ein Zugehöriger ordnete er alles, bedachte und beriet, und seine freie Selbstverständlichkeit ließ keine Verwunderung über sein Eingreifen aufkommen. Er verhandelte fast ausschließlich mit Hortense. Françoise hatte ein für allemal ihre Einwilligung gegeben zu allem, was die Zwei beschließen würden. Am liebsten hätte sie sich auch körperlich ganz ausgelöscht. Aber dann kam ihr das wieder wie eine Hinterlist vor gegen Balde. So als wollte sie sich davonschleichen, ohne ihr Versprechen zu erfüllen. Und dieses Versprechen war ja nicht nur ihm gegeben, sondern auch sich selber; es war nicht Gehorsam gegen einen Zwang, war nur die hörbar gewordene Form für ihre eigensten tiefsten Nöte. Mit der Gewalt einer Naturerscheinung war es aus ihr herausgebrochen, so wie Quellen eines Tages aufbrechen, wie Krater Feuersteine schleudern. Sie durfte jetzt nicht diese Kraft verleugnen. Leben mußte sie und sich erweisen.
    Und so tat sie denn in verzweifeltem Mute gleich das Allerschwerste: sie schrieb an Heinrich, sagte ihm von ihren Schmerzen, ihrer Wandlung und erbat seine Verzeihung.
    Als sie den Brief geschlossen hatte, trug sie ihn selbst nach Regisheim zur Post. Sie wollte ihn nicht durch Célestines neugierige Hände gehen lassen. Sie hörte ihn in den Kasten fallen und blieb wie betäubt davor stehen. Dieser kleine dumpfe Fall dadrinnen hatte all das Gärende und Fließende ihres Entschlusses, der bisher immer noch ihr Eigentum gewesen war, zum Geschehnis verhärtet. Der Bruch war vollzogen.
    Mit einem ganz gealterten Gesicht kam sie nach Haus. – –
    Es war beschlossen worden, Thurwiller zu verlassen, bis alles sich geklärt hatte. Hortense wollte die Geburt ihres Kindes in Gérardmer abwarten. Dort sollte man sich einrichten. Pierre, der in den nächsten Tagen wieder mit Liebesgaben an die Front fuhr, wollte die Überfahrt beschützen, Hortenses Reisewagen dem seinen angliedern. Auch Balde würde nach seiner Freilassung ihnen dorthin folgen. Von Armand glaubte Hortense, er sei wieder im Kampfe.
    Sie betete für ihn.
    Am Abend vor der Abreise ging Françoise ruhelos in ihrem unvertraulich ausgeräumten Stübchen auf und ab. Sie hatte kein Licht anzünden wollen, auch nicht den Mut gefunden, zu Bett zu gehen. Pierre hatte heute abend unter den Plätzen, die er besuchen wollte, auch Toul und Nancy genannt. Das war ihr wie ein erlösender Fingerzeig in der Wirrnis; wie eine Erlaubnis, geradewegs vom Himmel auf sie niederträufelnd und sie salbend mit heiligem Trost. In Nancy und Toul hatte Heinrich seine Kranken. Ihn wiedersehen vor der großen Trennung, sich aussprechen mit ihm, sich von ihm Mut holen, ihn trösten, ihm den Abschied sanft machen – immer gewisser wurde es in ihr, daß sie das tun mußte. Trotz ihres Versprechens an den Vater.
    Sie blieb stehen. Noch war nichts geschehen; noch war sie frei, zu tun, was sie wollte, frei ihrer Liebe nachzugehen. Sie konnte hinübergehen zu Heinrich, an einem Tisch mit ihm sitzen, an einem Tisch mit den Leuten, die ihren Vater beschimpften, sie konnte sich die Ohren zuhalten, wenn ihr armes verblutendes Land aus allen Poren seines wunden Leibes nach ihr schrie. Ja, sie konnte zum Sieger überlaufen als eine willige Beute.
    Lange stand sie so und warf harte, wilde Worte gegen sich selber. Und dabei fühlte sie immer deutlicher, daß sie in Wahrheit keine Wahl mehr habe. Der Gedanke der Scheidung, in tausend Schmerzen zum Gelöbnis erhärtet, hatte sich über ihr zusammengeschlossen wie eine Rüstung, kalt, schwer und undurchdringbar. Diese Rüstung aber – und nur sie – gab ihr in ihren eigenen Augen auch das Recht zu Heinrich zu gehen. Ja, sogar die Pflicht, sagte sie sich.
    Sie ging zur Tür. Sie hielt es nicht mehr aus in ihrem Zimmer, zwischen dessen gleichgültig und mutlos zusammengestellten Möbeln sie sich überhaupt noch nicht heimisch gemacht hatte, und in dem jetzt die Koffer bereitstanden, die sie nach Gérardmer begleiten sollten.
    Aber sie würde nicht dort hingehen. Sie mußte versuchen, Heinrich noch in Toul zu treffen, oder in Nancy, oder dort zuerfahren, wo sein Lazarett hingekommen sei. Das würde nicht unmöglich sein, war man erst einmal dort in der Nähe. Und dorthin – sie preßte die Lippen entschlossen zusammen –, dorthin würde sie jetzt reisen.
    Pierre ging ja nach Nancy und Toul. Wer wollte sie hindern,

Weitere Kostenlose Bücher