Die Verborgene Schrift
entsetzte. Sie faßte an ihre Brust. Buchstäblich drehte sich ihr das Herz im Leibe um. Nie im Leben hatte sie Ähnliches empfunden, nicht als Heinrich wegging, nicht als sie die Mutter tot fand. Und es war ein dunkles Wissen in ihr um das Fürchterliche, daß es nicht nur der Vater war, der ihr genommen wurde in dieser Stunde, daß tief in ihr etwas im Abscheiden lag: ihre Zukunft mit einem deutschen Manne. Sie faßte Martin Baldes Rock, als könne sie sich daran festhalten.
Balde stand ruhig da. »Ich müßte mich sehr irren, meine Herren« – er sah fast ironisch auf die Ansammlung von Uniformen, die die Gasse füllten –, »ich müßte mich sehr irren, aber dieser Schuß hat mit Politik nichts zu schaffen. Ehe Sie mich verhaften, lassen Sie mich Ihnen behilflich sein, den Täter zu entdecken.«
Aber schon schleppten sie ihn heran, ein blasser Knabe mit weichen Formen. Nein, ein Mädchen, Toinette.
Balde nickte. »Es ist, wie ich dachte. Der Bursche war ihr Schatz.«
»Und woher hat sie die Waffe?«
Niemand antwortete.
Der Offizier winkte. Zwei Soldaten faßten Balde zwischen sich. Er wurde beängstigend rot, aber er zerpreßte den Zorn fest zwischen den Lippen.
Von drüben scholl Gebrüll. Toinette biß und kratzte da gegen zwei Soldaten, die sie festhalten wollten. In einem Nu war ihre ganze Sippe um sie versammelt, der Alte, schwer betrunken, die schwammige Frau und Kinder jeder Art und Größe. Sie heulten, sie zerrten, hopsten und kreischten. Balde sah herüber. Er wandte sich zum Offizier. »Man darf ihr nichts tun,« sagte er, »sie ist eine Schwangere. Ja, meine Herren« – der Schimmer eines ironischen Lächelns flog dabei über sein Gesicht –,»sie trägt das Kind eines Ihrer Prussiens, des Soldaten da, den sie erschossen hat.«
Die drüben horchten auf. Toinette aber heulte: man solle ihr das Kind aus dem Leibe herausreißen. »Liewer krepiere, als dene verdammte Prussiens a Soldat zum Präsent mache.« Und sie lachte wie eine Besessene.
Der Offizier gab seinen Befehl. Man führte Toinette ab. Es sollte Haussuchung gehalten werden bei ihr, danach würde man weiter sehen. Als man sie an Françoise vorbeischob, blickte sie auf: »Eh bien, Mademoiselle? Und Ihr?«
Ein ganzer Haufen Süßwinkel-Leute strömte ihr nach. Sie brachen in die Gärten ein, rissen Blumen ab, bestreuten ihr den Weg wie einer Heiligen. Aus den Häusern rief man ihr »vive« nach.
Der Offizier, der die Verhandlungen leitete, wandte sich jetzt zu Balde. »Und nun zu Ihnen, Herr Maire. Sie wurden uns bereits als verdächtig bezeichnet. Jetzt haben Sie sich strafbar gemacht durch die Übertretung des Gebotes, alle Waffen an uns auszuliefern. Einer unserer Leute ist getötet.Sie sind haftbar für Ihre Gemeinde. Zu meinem Bedauern muß ich Sie gefangennehmen.«
Balde stampfte auf den Boden wie ein ungeduldiges Kind. »Führen Sie mich weg.« Sein Auge glitt seitwärts auf Françoise, die, ganz haltlos, in Tränen zerging. Er streckte ihr seinen Arm entgegen. Da hielt sie sich nicht mehr. Alles, was in ihr stritt und schmerzte, blutete sich aus in dem heißen schluchzenden Flüstern, mit dem sie ihn umklammerte: »Nie werde ich hinübergehen zu deinen Feinden, Vater. Zu unsern Feinden. Nie! Jetzt kann ich das nicht mehr.«
Sie war fast ohnmächtig.
Martin Balde streichelte seinem armen Kinde über das Haar: »Mein Kind, mein einziges, liebes Kind.«
Nicht länger als eine Sekunde hatte das Ganze gedauert. Jene Sekunde, von der die Märchen erzählen, daß die Welt während ihrer viele hundert Jahre älter geworden ist.
Der Offizier hatte Balde zwanzig Minuten Zeit gegeben für die Ordnung seiner Geschäfte und seines Hauses. Wachen standen vor der Tür. In der Gasse drängten sich schweigend die Thurwiller. Man sah in der Hauptstraße Gewehre aufblitzen, hörte hin und wieder Menschen und Pferde über dem Pflaster.
Françoise hatte vorsichtig Hortense verständigt. Jetzt packte sie mechanisch dem Vater Anziehsachen und Gebrauchsdinge in eine kleine Tasche. Sie empfand nichts mehr. Ein ungeheures kahles Staunen war an die Stelle aller Gefühle getreten. Nur ihr Körper handelte. »Man wird ihn nicht lange behalten da,« sagte sie mit leerer Stimme zur Schwester, die sich stolz, in kalter Wut neben ihr hielt, unfähig zu reden oder zu handeln. Im Fensterrahmen stand unbeweglich wie ein Bronzebild die Gestalt des Offiziers zu Pferde, der vor dem Hause wartete. Seine kleine gerade Nase hob sich dunkel gegen den blauen
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