Die Verborgene Schrift
begeben, die er nicht beherrschte. Dieser gegenüber fühlte er sich hilflos. Er vermochte nicht sich vorzustellen, was Françoise sagen würde, was er ihr erwidern.
Die Klostergasse, in der sie jetzt gingen, baumdunkel und von einer feuchten Wärme erfüllt, machte ihm fast Furcht. Er suchte nach einem Wort, das ihm zu entschlüpfen erlaubte.
»Also Sie fühlen sich hier alle schlecht behandelt von den Deutschen?« fragte er schließlich zänkisch.
»Das, o nein, wir haben im Gegenteil unsere Freude und unser Behagen an Invalidenversicherung, Krankenkasse, Wasserklosetts, Elektrizität, gut schließenden Fenstern und Türen und sprechen daneben seelenvergnügt« – er machte eine spöttisch-schalkhafte Bewegung mit der Hand – »unser angestammtes Französisch. Aber« – wieder waren sie an der Gittertüre angelangt – »wir sollten längst bei Madame Füeßli sein, und statt dessen führe ich Sie hier im Dunkeln umher und langweile Sie mit meinen Bemerkungen. Verzeihen Sie mir.«Hummel antwortete steif. »Es hat mich sehr interessiert, einen Elsässer über diese Dinge zu hören. Heute habe ich nun in Baron von Meckelen, Herrn Schlotterbach und Ihnen, Herr Maire, die Vertreter dreier typischer Berufe kennengelernt.«
Er steckt uns in sein Herbarium, dachte Füeßli belustigt. Dieses Zusammentreffen mit dem Manne, dem Françoises erste Liebe gehört hatte, war längst ein Wunsch von ihm gewesen. Vor allem, weil er den Kern des Schattens kennen wollte, mit dem er einst so schwer zu kämpfen gehabt. Mit Befangenheit und aufgeregter Neugier war er in der »Krone« eingetreten. Das Feine, Kindliche und fast Hüllenlose aber dieser Seele, wie es aus jeder Äußerung und jedem Blick hervorleuchtete, dazu die edle Form der Gelehrtenstirn, die über dem schon etwas erschlafften Gesicht sich fest und klar erhob, alles das gab ihm einen neuen Menschen, der gar keine Verbindung für ihn hatte mit dem Heinrich Hummel, den er sich unwillkürlich immer noch jung und fordernd vorgestellt hatte. Und jetzt, da er ihn auf einer kleinen Lächerlichkeit zu ertappen meinte, war er ihm geradezu lieb geworden...
Inzwischen saß Françoise Füeßli am Bett des kleinen Martin, der unter ihren geschickt lindernden Mitteln und beruhigenden Händen jäh eingeschlafen war. In seiner kleinen Faust aber hielt er ein paar ihrer warmen Finger gefangen, so daß sie in unbequemer Haltung dem Schneeschlagen lauschte, das aus der Küche herüberdrang. Man bereitete für den Gast. Hausfraulich überdachte sie noch einmal ihr eilig verfestlichtes Nachtessen und betrachtete dann zärtlich des Kindes verwühlte Locken, den dunklen Wimperstrich der Lider, die erhitzten Bäckchen. Ein gelblich verhülltes Lämpchen brannte auf der Kommode und warf ein mondhaft stilles Licht über das hübsche neue Bronzebett, in dem der Knabe lag, daß das Gegitter märchenhaft floß und gleißte. Pierre hatte, als das »Silberkind« in Aussicht war, darauf bestanden, es nach neuesten hygienischen Grundsätzen zu betten und zu pflegen. Keine Wiege und später nicht Pauls altes Kinderbettchen, das mit Batist und Schleifchen aufgeputzt zu werden verlangte. Françoisevermißte anfangs das Zarte und ein wenig Sentimentale ihrer früheren Kinderstube, dann aber hatte sie sich an die saubere Übersichtigkeit gewöhnt, an die kalten Bäder für den Kleinen, die kurzen Strümpfchen. Sie war stolz auf sein abgehärtetes braunes und sehniges Körperchen und konnte ihn sich jetzt gar nicht mehr anders denken als in seinem Matrosenkittelchen mit freier Brust. Freilich trennte sie die deutschen Schiffsabzeichen von Mütze und Ärmel und stickte Phantasieblumen hinein, der Bub aber bewahrte sich die deutschen Abzeichen und spielte damit Marine. Sie ließ ihn gewähren. Ebenso wenn er weinte, weil er keine deutschen Buchstaben lernen wollte, und trotzig schwieg, wenn ihn jemand deutsch anredete. Auch als er vor einem Jahre zur Schule kam, blieb das so, bis er auf einmal von deutschen Verschen und Liedern überfloß. So sehr, daß er seine kleinen Kusinen aus Mülhausen verachtete, die nur Französisch zu plappern verstanden. In dieser deutschen Phase befand er sich noch heute. Die Veranlassung dazu war seine Schwärmerei für den deutschen Lehrer, dem er für die Botanikstunde die schönsten Pflanzen herbeischleppte, deren Hauptwert darin bestand, daß man sie mit Mühe und Gefahr aus Sumpfwiesen zwischen Felssteinen, Erdlöchern und Stachelpflanzen herausreißen konnte. Auch der
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