Die Verborgene Schrift
sprach leise und langsam, wie diktierend. Habe er gewußt, daß kein Auto hier an der Bahn wäre und nicht einmal Droschken, dann hätte er die Schose überhaupt nicht mitgemacht. Ein Überernährter war da, seltsam beweglich, der die Unterhaltung führte, und ein Stiller, Fleißiger, derselbe, der sich vorhin auf der Landkarte Notizen gemacht hatte. Erschrieb auch jetzt in sein Buch und murmelte Zahlen vor sich hin, kurzsichtig, ohne Haar, im Gesicht etwas Geierhaftes. Wahrscheinlich war er weit jünger als die fünfzig Jahre, die er zeigte.
Hummel drehte den Leuten den Rücken zu. Er war aus seiner Welt herausgerissen. Zerstreut trank er seinen Tee und las die Zeitung, die er gestern aus Straßburg mitgebracht und nur flüchtig angesehen hatte.
Die Herren unten im Saal hörten keinen Augenblick auf, sich zu unterhalten. »Meine Frau, meine Frau,« sagte der eine immer. Es war der Langsame und Dünne. Der Dicke schrie beständig wie erbost. Selbst als er nur erzählte, wie billig er seine Spazierstockkrücke erhalten habe, klang es, als ob er sich mit jemandem zanke. Der mit dem Notizbuche rief nach einem »Zeitungsmenschen« zum Fenster hinaus, hatte aber keinen Erfolg, weil er irrtümlich den Postboten anrief. Man sprach während des Essens von anderem Essen, das man hier oder da in anderen Städten gegessen hatte. Dazwischen von Preisen. »Können Sie jetzt billig haben, wenn Sie sich beeilen.«
Hummel kroch ganz in sich zusammen. Er goß sich sogar Arrak in seinen Tee.
Jetzt fingen die Vier an – offenbar bildeten sie eine Art Kommission – über den Rutengänger zu schimpfen, der sie irgendwie in ihren Hoffnungen enttäuscht hatte. Der Dicke räsonnierte und lachte sogleich aus voller Kehle. Zuletzt begriff Hummel: der Rutengänger sei mit unbeweglicher Rute an einem Schacht vorbeigegangen, an dem stand: »Außer Betrieb.« Füeßli hätte den Herren dann gesagt, daß dies der ergiebigste Schacht des ganzen Unternehmens sei und nur augenblicklich wegen Sicherungsarbeiten geschlossen. »Übrigens famoser Kerl, der Füeßli,« sagte der Fleißige. »Versteht was von der Schose.« Er hatte eine hohe, heisere Stimme, in der auf eine unangenehme Weise Energie schwang.
Zuletzt sprach man nur noch von Berlin. Man rühmte alles: die Sauberkeit, Ordnung, Schnelligkeit der Verkehrsmittel, die Kinos und das Nachtleben in der Friedrichstraße und Tauentzienstraße. Man schien den gelehrten stummenRücken des Mannes da im Erker recht als eine Aufforderung zu empfinden, saftige Männeranekdoten zu erzählen. Ganz schnell, wie man Waren aufzählt oder Ziffern nennt. Der Dicke sah nach der Uhr. Er schalt, daß man ihn hier seine Zeit versäumen lasse. Er müsse morgen früh zur Sitzung und habe noch einen langen Bericht zu schreiben dafür. Der Dünne fragte mit schleppender Stimme, was denn dabei sei. Bis dahin werde er noch lange fertig. »Sie haben ja noch die ganze Nacht vor sich.«
Unwillkürlich hatte sich Hummel umgesehen. »Die ganze Nacht noch vor sich,« das war echt Berlinisch.
Im Nebenzimmer war schon eine ganze Weile Klavier gespielt worden. Ein weicher, huscheliger Anschlag.
»Hört, hört.« Der Dicke ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. »Ah, France, ma France,« hörte man, »loin de toi je me meurs.«
»Die Kerls machen Chauvinismus. Zum Rollen.« Er öffnete die Türe weiter. Gerade begann eine männlichere Stimme. Man sah einen breiten, etwas runden Rücken, der sich nach dem Takte einer neubeginnenden lustigen Melodie vor und zurück bewegte. Es war eine französische Deklamation. Harmlos unanständig, mit festem deutschem Akzent gesprochen. »Embrasse moi, Ninette.« Man lachte drinnen und draußen.
»Zum Rollen,« sagte der Dicke wieder ernsthaft.
Das Margritle kam, die Teller abzunehmen. Sie schloß dabei wie unabsichtlich die Türe wieder. »D'r Monsieur Treumann singt,« sagte sie zu dem Fleißigen. »Der Herr Postvorsteher. Er ist alleweil gespaßig und so ein guter Herr. Er kennt eben die Leute hier in Thurweiler. Wenn er jetzt nicht gesungen hätt', dann hätte der schönste Krawall angefangen.«
»Krawall? Na, das wäre doch mal ein bißchen Abwechslung gewesen.«
»Der Herr hat schon recht, certainement, mais voyez-vous, dann muß der Kronewirt am End' wieder blechen, wie letzthin am Sonntag von Karneval. Wir hatten hier eine Reunion vom Cercle Alsacien.«
»Kenn' ich nich, was ist denn das auf deutsch?«
»Ein Verein, wissen Sie, Monsieur, den die jungen studierten Herren
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