Die Verborgene Schrift
schwieg. »Ich weiß,« sagte er dann ernst. »Die eingewanderten Deutschen werfen uns immer Unaufrichtigkeit vor. Sie beklagen sich, wenn wir sie nicht in unsere Intimität hineinsehen lassen, oder wenn wir aus Höflichkeit zu ihnen so reden, wie sie es wünschen. Und tags darauf vielleicht kommen unsere Verwandten aus Frankreich zu Besuch; was Wunder, wenn man ihnen, die in Rage geraten, wenn sie eine Pickelhaube sehen, und Ohrenschmerzen spüren, wenn sie deutsch angeredet werden, die Berührung mit seinen deutschen Freunden erspart, sie vielleicht gar vor ihnen verleugnet? Wir sind nicht zu beneiden, glauben Sie mir. Und es ist nicht schwer für einen Elsässer, seinen festen Charakter zu verlieren und zwischen den zwei Feuern, die auf uns gerichtet sind, nach jeder Seite hin zu schmelzen.«
»Ja, ja, ich weiß, man hat ja neuerdings auch die schöne Phrase von der elsässischen Doppelkultur aufgebracht. Ich muß gestehen, ich kann mir nichts Rechtes darunter vorstellen.«
Der Maire hatte eine unbestimmte Handbewegung. »Pubertätserscheinungen, beim Volke wie beim Einzelnen. Wir sind alle ein wenig an dieser Klippe vorbeigesegelt. Und wenn Sie jetzt Baron Arvède sehen, werden Sie nicht glauben, daß er einmal am Zwiespalt seiner Doppelnationalität fast zugrunde gegangen wäre.«Hummel nickte. Françoise hatte ihm damals von ihrer Begegnung mit dem Knaben im Thurwalde geschrieben. Und er kam sich einen Augenblick verwoben vor und verstrickt in das Leben dieser Personen, an die er ein Menschenalter lang überhaupt nicht mehr gedacht hatte.
»Und Ihr Schwager Schlotterbach?« fragte er dann. »Mir scheint, er ist gescheitert an dieser Klippe, von der Sie sprechen. Ich hätte nie gedacht, daß ein Mann, der in seiner Jugend so viel Verständnis für Deutschlands Größe hatte, ein so eigensinniger Chauvinist werden könnte.«
Füeßli zuckte die Achseln. »Mein guter Schwager liebt es, sein Glück immer dort zu sehen, wo er gerade nicht ist. Man nennt diese Leute Idealisten. Wir andern Prosaischen sind weniger Guck-in-die-Luft-Menschen, wir sehen auf unsere Füße. Dabei bog er mit freundlicher Bewegung dem Fremden einen feuchten Zweig zurück, der an seinen Hut streifte.
»Und da zu Ihren Füßen, was sehen Sie da?« Schon ein paarmal waren sie, von gleichem Impulse getrieben, vor dem Gitter des Balde-Hauses wieder umgekehrt und von neuem die Klostergasse zurückgegangen. Auch jetzt machten sie es so. Unvermittelt begann Füeßli wieder: »Sehen Sie, Herr Geheimrat, das Elsaß hat noch nie das Glück gehabt, eine Staatsform organisch aus seinem Volkstum herauswachsen zu sehen, malheureusement . Immer ist sie ihm von dem Staate, dem es gerade angehörte, oktroyiert worden. 1870 waren wir einfach ein Departement von Frankreich. Man wünschte sich bei uns die freie Republik. Frankreich hat die Republik erhalten, wir aber gehören zu Deutschland, voilà . Einen Volksstaat haben wir gewollt, einen Beamtenstaat haben wir erhalten, und würde jetzt Elsaß-Lothringen von Deutschland eine Verfassung geschenkt bekommen, so würde den Inhalt dieser deutschnationalen Verfassung wiederum nur eine Bevölkerung bilden, die noch kein inneres Verhältnis zu ihrer Staatsform gefunden hat. Was uns fehlt, ist das gemeinsame politische Gemütserlebnis mit unserer Heimatsregierung, mit Deutschland. Ein Erlebnis, wie Elsaß es mit Frankreich durch die Revolution hatte.«Hummel sah ihn überrascht an. »Ein gemeinsames Gemütserlebnis!« Der Gedanke überraschte ihn. Stumm lächelte er vor sich hin, sich immer mehr in den begonnenen Gedankengang vertiefend.
Pierre fuhr fort. »Von diesem gemeinsamen Gemütserlebnis aber sind wir noch weit, weit entfernt; denn Ihre Regierung – Sie verzeihen mir? – macht es manchmal wie das Kind im selbstgepflanzten Gärtchen, das immerfort neugierig an seinen jungen Setzlingen rupft, um zu sehen, ob sie schon Wurzeln treiben. Man kann von uns nicht verlangen, daß wir mit Emphase die ›Wacht am Rhein‹ singen. Aber wir wehren uns ebenso gegen die Franzosen, die verlangen, man solle immerfort Revanche schreien.«
»So, tun Sie das? Wehren Sie sich? Das wäre ja sehr schön!« Er ging rasch und böse neben dem Gatten von Françoise her. Wozu eigentlich war er mit ihm gekommen? Er sann auf eine Ausrede, wieder umzukehren. Und nun fiel es ihm auch schwer aufs Herz, daß er der Frau gegenübertreten sollte, die ihn verlassen und die er beleidigt hatte. Er liebte es nicht, sich in Lagen zu
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