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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselma Heine
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Sturz in die Kalkgrube war eine Folge seines wissenschaftlichen Eifers gewesen. Er wollte die Löschbarkeit des Kalks prüfen und vor dem Lehrer damit Beachtung finden.
    Françoise war nicht weichlich mit ihm. Sie dachte mehr an seine Freude als an ihre Angst bei allen seinen Unternehmungen. So trug sein kleiner Körper und sein Anzug immer Risse und Flecke. Paul war in diesem Alter bereits ein kleiner eleganter Herr gewesen. Ihm gegenüber wäre die Mutter vielleicht auch eitler gewesen. Martin erst hatte ihr wirkliche Muttergefühle geschenkt. Vor diesem Spätling vergaß sie oft alle Erziehungsvorurteile und wollte nur genießen. Und wie er nun größer wurde, empfanden Pierre und sie eine sonderbare Dankbarkeit gegen ihn, daß er sie mit der neuen Generation verband, zu der sie sonst keine Fühlung mehr gesucht hatten.Um seinetwillen machten sie sich horchend und willig für das neue Elsaß. Sie sahen sich um.
    Vielen ererbten und sorgfältig gepflegten Groll sahen sie da. Aber dieser Groll war sonderbar mit unwillkürlichem Deutschtum gemischt. Die jüngere Generation der Elsässer war politisch gleichgültig, hatte nur die ernste Absicht, als Individuum irgendwie voranzukommen, angenehm zu leben. An ein Wieder-französisch-werden glaubte keiner recht, so viele auch sich mit dieser Idee drapierten oder sie als unterhaltendes Spielzeug benutzten.
    Als Gegengewicht gegen diese Bestrebungen hatte die deutsche Presse begonnen, sich mit dem anerkannt Guten der deutschelsässischen Vorzeit zu beschäftigen: Gottfried von Straßburg, die Mystiker, Gutenberg. Man wollte damit die gemeinsame Vergangenheit gegen die französische ausspielen, einen Treffpunkt schaffen für die schönen Geister beider Seiten. Eine elsässische Rundschau wurde gegründet, Jahrbücher, die sich den alten elsässischen Volkssitten widmeten und Beiträge von elsässischen Laien wie deutschen Gelehrten vereinigten.
    Hier fand sich Françoise am leichtesten ein. Sie nahm Père Anselmes liebes Buch vor, das nach dem schwer leserlichen Manuskript in unwürdiger Form erschienen war, und ergänzte für eine neue Auflage nach dem nunmehr geordneten und gesichteten Archiv die Lücken. Ihr Onkel Eusèbe Blanc, der jetzt als Universitätslehrer in Straßburg lebte, verschaffte ihr aus den dortigen Bibliotheken, was sie brauchte. Sie saß im Rathause und las in den alten Büchern. Und dabei fand sie ein Deutschland wieder, wie sie es geliebt hatte. Das Deutschland des Mittelalters und der Romantik. Père Anselmes Deutschland.
    Aber die Wirkung dieses Wiederfindens war keine germanisierende bei ihr. Im Gegenteil. Denn indem sie die gründliche handwerkliche Sicherheit und tiefe Innerlichkeit des mittelalterlichen Deutschen mit dem verglich, was sie heute um sich sah, oder die seelische Vertiefung der »Gottesfreunde« mit dem materiellen Gehaben rundum, ergriff sie eine böse Verachtung; zugleich aber der brennende Wunsch einer leidenschaftlichenMütterlichkeit: ihr Sohn möge es sein, der dazu beitrüge, im Elsässer wieder dies alte schöne Menschentum aufzuwecken. Ja – und ihr wurde heiß und weit bei dem Gedanken – in den Deutschen selber.
    Françoise stand auf. Der Kleine hatte ihre Hand losgelassen. Sie sah nach der Uhr. Dann ging sie langsam vor den großen Spiegel und betrachtete sich. Würde Heinrich Hummel sie sehr alt finden? Sie zupfte die Spitzen ihres Jabots voller und ging in ihr Schlafzimmer nebenan, sich das Haar frisch zu ordnen. Schließlich vertauschte sie auch ihr Kleid mit einem besseren. Dabei spürte sie, daß sie Herzklopfen hatte. Sie trat ans Fenster, das über das Vorplatzgitter hinüber nach der Klostergasse sah. Sie wartete.
    Der Gedanke eines Wiedersehens mit Hummel war ihr nicht neu. Seitdem sie ihn in Straßburg wußte, hatte sie, wenn sie dort Besuche oder Besorgungen machte, an jeder Straßenkreuzung eine Begegnung erwartet, sich überlegt, ob man sich grüßen, ansprechen, versöhnen würde. Es war ja so ewig lange her, daß man einander wehgetan. Seitdem sie Martin hatte, war diese Vergangenheit ihr gleichgültig geworden, wie sie glaubte. Jetzt spürte sie mit Staunen und Verdruß, daß sie erregt war. Und als sie jetzt die Gittertüre gehen hörte, streckte sie abwehrend beide Hände aus. Darüber aber mußte sie lachen. Noch einmal blickte sie nach dem Bübchen, dann ging sie mit glühendem Kopf und eiskalten Händen hinüber ins Besuchszimmer, sehr unzufrieden mit sich selber. Unwillkürlich strich sie sich kurz

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